"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst": das steht in der Tora. Das werde als Maxime des ethischen Monotheismus erachtet, "aber eigentlich ist es ja gar nicht so schwer, den Nächsten zu lieben, der ist wie wir selbst", sagte Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister vergangene Woche im Wiener Rathaus. "Wesentlich schwieriger ist es, den Fremden zu lieben, denjenigen, dessen Aussehen, Sprache, Kultur und Religion so anders ist als die uns vertraute und bekannte." Die Tora erwähne diese Verpflichtung daher nicht nur ein Mal – sondern 36 Mal. "Ihr sollt die Fremden lieben; denn auch ihr seid Fremde gewesen in Ägypten!". "... und waren es wieder die letzten 2000 Jahre in der Diaspora", so der Nachsatz Hofmeisters, der die Laudatio auf den Verein Shalom Alaikum – Jewish Aid for Refugees hielt. Die Flüchtlingsinitiative von Wiener Jüdinnen wurde mit dem diesjährigen Leon Zelman-Preis des Jewish Welcome Service ausgezeichnet.

Der Wiener Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister hielt die Laudatio auf den diesjährigen Leon Zelman-Preisträger, den Verein Shalom Alaikum - Jewish Aid for Refugees. Er erinnerte in seiner Rede daran, dass die Verpflichtung zur Fremden-Liebe 36 Mal in der Tora steht. - © PID/Walter Schaub-Walzer
Der Wiener Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister hielt die Laudatio auf den diesjährigen Leon Zelman-Preisträger, den Verein Shalom Alaikum - Jewish Aid for Refugees. Er erinnerte in seiner Rede daran, dass die Verpflichtung zur Fremden-Liebe 36 Mal in der Tora steht. - © PID/Walter Schaub-Walzer

Laut Rabbi Moshe ben Nachman, dem berühmten Tora-Kommentator des 12. Jahrhunderts, decke das Gebot der Fremden-Liebe zwei Dimensionen ab: einerseits die Hilflosigkeit von Fremden, die in einem fremden Land mit fremder Sprache und ohne das gewohnte Netzwerk aus Familie, Freunden, Nachbarn gelandet seien, führte der Rabbiner weiter aus. Das sei die politische und physische Dimension. Zweitens berücksichtige die Tora aber auch die damit einhergehende emotionale Verletzlichkeit der Fremden. Sie fühlten sich oft alleine und unsicher. "Dieses psychologische Dilemma wird dann noch um ein Vielfaches verstärkt, wenn ihnen das Gefühl des Nicht-Willkommen-Seins oder gar der offenen Ablehnung im Land der Zuflucht entgegen gebracht wird."

Goldene Chance, antisemitische Vorurteile abzubauen

Das 36-fache Tora-Gebot der Fremden-Liebe diene aber nicht nur der Menschlichkeit und dem Wohl des Fremden selbst, sondern sei auch für ein gesundes Ankommen dieser Menschen in unserer Gesellschaft nötig. Zudem sei sie "die wirksamste Maßnahme zur Prävention von allen Horror-Szenarien, die gerade von all jenen an die Wand gemalt werden, die sich dem Gebot der Fremden-Liebe scheinbar nicht verpflichtet sehen." Die Initiatorinnen von Shalom Alaikum hätten nicht nur die Zeichen der Zeit und den Bedarf erkannt, Flüchtlinge zu unterstützen. "Sie haben verstanden und erkannt, dass dies eine goldene Chance ist, antisemitische Vorurteile abzubauen."

Hofmeister erinnerte dabei auch an den Propheten Yischayahu, der den Auftrag des Jüdischen Volkes darin sah, Or LaGoyim, ein Licht unter den Völkern zu sein, also durch ein gutes Beispiel Licht in die Dunkelheit zu bringen. Initiativen wie Shalom Alaikum seien ein Licht der Hoffnung in einer Zeit der gesellschaftlichen Prüfung, "ein wichtiges Gegengewicht zu Tendenzen der moralischen Gleichgültigkeit und Prinzipien-losen und somit auch Wert-losen Interessenspolitik, die wir in fast allen westlichen Gesellschaften derzeit erleben".

Nichtsdestotrotz müssen sich die Vertreterinnen von Shalom Alaikum innerhalb der jüdischen Gemeinde immer wieder anhören: Das sei ein "Gutmenschenverein", "blauäugig" und "naiv" sei die Herangehensweise, und überdies: wer helfen wolle, der habe innerhalb der jüdischen Community bereits ein passendes Betätigungsfeld. Zumal Wohltätigkeit innerhalb der eigenen Gemeinde ohnehin Vorrang habe.

Jedes islamistische Attentat in Europa scheint viele Juden und Jüdinnen, auch in Wien, darin zu bestätigen, dass Muslimen generell nicht zu trauen ist. Dass der Islam das grundsätzliche Problem ist, dass die Terrorideologie in dieser Religion begründet und verankert ist, und demzufolge vom Gros oder sogar allen Muslimen eine Gefahr ausginge. Rasch kommen dann die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan ins Gespräch, weil: auch sie sind Muslime und seien teils von klein auf mit Antisemitismus quasi gefüttert worden.

Muslimisch-jüdischer Dialog

Der muslimisch-jüdische Dialog wird von manchen in der Wiener jüdischen Gemeinde geschätzt, von anderen abgelehnt. Auch hier heißt es dann gerne: man könne dem Gegenüber nicht trauen. Wozu das Gespräch suchen, wenn am Ende doch wieder Antisemitismus das Thema sei (und es ist unbestritten, dass es Muslime gibt, die antisemitisch auftreten - man höre sich nur die bei der Al Quds-Demonstration vergangenen Samstag in Wien skandierten Parolen wie "Zionismus ist Faschismus" oder "Kindermörder Israel" an).

Es ist nur diese Pauschalierung, der Generalverdacht das, was mich und andere den Kopf schütteln lässt. Wenn alle so dächten, kämen Muslime und Juden nie ins Gespräch, doch genau das ist wichtig. Und wie die Saat aufgehen kann, zeigt nicht nur Shalom Alaikum, sondern etwa auch die Muslim Jewish Conference, die seit Jahren vor allem auf den Austausch von muslimischen und jüdischen Studierenden und jungen Erwachsenen aus aller Welt setzt.

36 Mal steht also in der Tora, "ihr sollt die Fremden lieben". Ich finde, das ist ein sehr klarer Auftrag. Zumal eine der Erfahrungen von Shalom Alaikum (und meine eigene, ich bin auch im Rahmen des Vereins tätig) ist: aus Fremden werden über die Zeit Freunde. In diesen muslimisch-jüdischen Freundschaften haben weder pauschale Ressentiments gegenüber Muslimen noch Antisemitismus Platz. Und das ist doch eigentlich der Zustand, den wir auf Ebene der Gesamtgesellschaft erreichen wollen.