Vor kurzem habe ich einen Klassenkameraden aus der Volksschule neu kennengelernt. Einzig an seinen Vornamen konnte ich mich vage erinnern, doch im Gespräch tauchten sofort der damalige Lehrer und andere Schüler aus der Klasse auf und auch die besonderen Umstände - wir besuchten etwas, das "Übungsschule" hieß und im selben Gebäude wie die "Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt" untergebracht war. Die Auszubildenden hießen "Kandidaten" und übten an uns, wie es sein würde, Volksschullehrer zu sein.

Ähnlich ging es mir mit einem jüngst erschienenen autobiografischen Buch (Friedrich Hahn: Der Autor steht für Lesungen und Pressetermine nicht zur Verfügung. Eine Nahaufhörerfahrung. Bibliothek der Provinz, Weitra, o.J., 318 S.), in dem es um eine österreichische Schriftstellerkarriere geht. Ich kannte so ziemlich alle und alles, was darin vorkam, nur der Ich-Erzähler trat praktisch neu in mein Leben. Parallel zu Gerhard Henschels "Erfolgsroman" ist dies ein absoluter Misserfolgsroman. Das hat auch was, ein patschertes Schriftstellerleben bis ins kleinste Detail nacherzählt zu bekommen. Zumindest Insider des Betriebs dürften ihr Vergnügen daran haben. Die Übrigen müssen das Wagnis einfach eingehen.

Noch ein Buch in der Ich-Form. Der an dieser Stelle beretis einmal vorgestellte, 1942 geborene Amerikaner Steven Bloom schlüpft hier in die Haut eines zwei Generationen älteren Geschichteprofessors (Mendel Kabakov und das Jahr des Affen. Übers. von Silvia Morawetz, Wallstein, Göttingen 2019, 199 S.). Auch Mendel Kabakov breitet eine Art déformation professionelle vor uns aus: Weite Strecken des Buches, das vom traurigen ersten Witwerjahr des Erzählers, dem notorischen Jahr 1968, und einem ausgesprochen turbulenten Familienleben handelt, füllen Mendels Erinnerungen an dieses. Überwölbt wird alles aber von seinem Historikerwissen, das ihn nicht aufhört zu plagen. Wir lesen von der Unzahl unerfreulicher Episoden aus der amerikanischen Geschichte, von nichts als Mord, Vertreibung, Unterdrückung und der Verlogenheit der politischen Führer. Als kleines Handbuch des Antiamerikanismus durchaus zu empfehlen. Mich hat die Lektüre etwas zu sehr an hiesige einschlägige Zeitgenossen erinnert, die einen abendfüllend über die schlimmen Seiten der Amerikaner, Israelis, nicht zu vergessen die Engländer!, unterrichten und an Rudolf Burgers beinah verzweifelte Frage "Wozu Geschichte?" denken lassen.

Und noch ein Ich-Erzähler, ein viel älterer. Der hat es, geboren im besten 18. Jahrhundert, bei guter Gesundheit bis in unsere Tage geschafft (Gabriele Weingartner: Leon Saint Clairs zeitlose Unruhe. Roman. Limbus Verlag, Innsbruck/Wien, 2019, 358 S.). Irgendwann ist er draufgekommen, dass er zum Unterschied vom Rest der Menschheit nicht sterben kann - ein altes Erzählmotiv, das die Autorin mit sichtlichem Vergnügen aktualisiert. Er hat in seinem langen und abwechslungsreichen Leben die erstaunlichsten Bekanntschaften gemacht, in der Regel hat er erst viel später kapiert, wem er da über den Weg lief zwischen Mozart und Somerset Maugham; ein Zwischenspiel im notorischen Moskauer "Hotel Lux", der Absteige berühmter Emi-granten aus dem Westen und oft die letzte Station auf ihrem Lebensweg, etwas, um das man ihn weniger beneidet. Nach all der Zeit spürt er den Wunsch in sich wachsen, dieses Leben zu beenden; es soll zeitgemäß geschehen, im Rahmen eines Besuchs in der Schweiz, bei einer dieser auf solche Probleme spezialisierten Institutionen...

Damit wir im Genre bleiben, befindet sich unter den fünf Geschichten einer immer noch berühmten Nobelpreisträgerin (Doris Lessing: Worum es wirklich geht. Stories. Übers. von Barbara Christ u.a., Ebersbach & Simon, Berlin 2019, 192 S.) auch eine Geschichte mit Ich-Erzählerin. Vor vielen, vielen Jahren, genauer gesagt 1977, las ich Lessings berühmtesten Roman, "Das goldene Notizbuch": Er gehört zu denen, die deshalb in meinem Regal bleiben dürfen, weil ich ihn noch einmal lesen möchte. Für Lessing-Anfänger ist dieser kleine Band als Appetithäppchen durchaus zu empfehlen.