Man mag es kaum glauben, aber das vermeintliche Nischenprodukt Lyrik kann auch ein Massenphänomen sein. Paradoxerweise ist sie das auf einer Online-Plattform, die eigentlich eher dazu gedacht ist, Bilder und Videos zu teilen: auf Instagram. Aber gut, da ein Gedicht bekanntlich auf einer Seite und damit auf einem Foto Platz hat, ist es irgendwie sogar logisch. In der Kürze liegt hier nicht die Würze, sondern die mediale Tauglichkeit.

Star der Insta-Poesie ist die Indo-Kanadierin Rupi Kaur. Ihr Account hat vier Millionen Abonnenten, und ihre beiden Lyrikbände - am Ende drängt dann doch alles zum guten alten Buch hin - haben sich weltweit mehr als sieben Millionen Mal verkauft. Vor kurzem ist "home body"(übers. von Anna Julia Strüh und Christine Strüh, S. Fischer, 2020) erschienen und schon der Titel macht deutlich, worum es in dieser "poetry" (so die Gattungsbezeichnung auch der deutschen Ausgabe) in erster Linie geht: um das eigene Ich in seiner Körperlichkeit. "ich tauche ein in den brunnen meines körpers / und lande in einer anderen welt / alles was ich brauche / existiert bereits in mir / es ist also nicht nötig / woanders danach zu suchen".


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Instagram-Account von Rupi Kaur
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Kaurs Gedichte waren schon immer Nabelschau, das lyrische Ich verhüllt kaum das der Autorin, und was die Millionen von vor allem Leserinnen daran fasziniert, ist gerade diese Offenheit, mit der das eigene Seelenleben und der eigene Körper bedichtet werden. Das erinnert ein wenig an die Neue Subjektivität der 1970er Jahre, aber auch an das, was man einst als "Selbstverständigungstexte" apostrophierte. Ob das bedeutsame Lyrik ist, sei dahingestellt. Schön immerhin, dass so viele Leute Gedichte lesen und sich darin offenbar zu Hause fühlen.

Recht körperbetont geht es auch in Ocean Vuongs "Nachthimmel mit Austrittswunden"(übers. von Anne-Kristin Mittag, Hanser, 2020) zu. "Die Weichheit des Körpers / bewahrt uns / vor Einsamkeit", heißt es da etwa, und der robusten Männlichkeit der "Väter" setzt dieser queere Poet eine sprachlich-körperliche Zartheit entgegen, die mitunter reichlich sentimental-süßlich gerät, aber trotzdem nie aufgesetzt wirkt. Da wird dann selbst eine "Ode an die Masturbation" zur seitenlangen "art- / ikulation / zermalmter sterne". Jedes Gedicht ist ein "Selbstporträt als Austrittswunden", oft gefährlich nah am Kitsch, doch nie konventionell - wer diese eigenwillige poetische Welt betritt, muss mit dem "Verlust / des Rückwegs" rechnen. Bei Vuong ist der "body" nicht ganz so heimelig wie bei Kaur.


Zumindest in seiner Heimat ein Star ist auch der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan. Doch die "Austrittswunden" haben bei ihm einen ganz realen Hintergrund. Denn Zhadan stammt aus der Ostukraine, und dort herrscht seit sechs Jahren Krieg. Und so sind die Gedichte in "Antenne" (übers. von Claudia Dathe, Suhrkamp, 2020) fast durchgängig von einem düsteren Grollen grundiert. Es ist eine "brüchige Poetik der Müdigkeit", die uns hier begegnet, die gleichwohl von unerhörter Wahrnehmungsschärfe und sprachlicher Präzision ist. "Die Seelen der Waldvögel reiben sich in der Luft. / Zeit, die Nacht zu belauschen, die unsichtbaren Flügel zu berühren." Vom Tod ist viel die Rede in diesen langen, an Songs und manchmal auch an meditative Litaneien erinnernden Poemen, aber auch von der Liebe, von der Angst und vor allem von der Hoffnung, die ein poetisches Sprechen zu vermitteln vermag. "Die Welt zeigt sich hoffnungslos ungeeignet für das Leben. / Zur Rechtfertigung hat sie die Literatur erfunden." Denn der Krieg, die Angst, das Sterben, sie werden erträglicher, wenn wir von uns sprechen, von dem, was war, was ist und was bleibt - wenigstens im Gedicht.

Definitiv kein Lyrikstar war der im Mai 2020 verstorbene Alfred Kolleritsch. Er war zeit seines Lebens ein Einzelgänger der Poesie, ein philosophischer Dichter, dem jede Nabelschau, jede literarische Heimeligkeit fremd war. Kurz vor seinem Tod ist ein letzter Gedichtband von ihm erschienen: "Die Nacht des Sehens" (Wallstein, 2020). Er ist eine Art Vermächtnis geworden, Zeugnis eines Schreibens, das stets den direkten Weg vom Physischen zum Metaphysischen nahm, das nicht viele Worte machte und das lieber einen Vers vermied, als ihn hinzuschreiben. "Manchmal fallen die Gedichte / vom Himmel, am nächsten sind sie / wenn sie verschwinden, / versunken in sich selbst. / Keiner kennt ihr Inneres, / die Werkstatt der Schrift." Instagram-tauglich ist das, trotz aller Kürze, nicht. Aber gute "poetry" ist es allemal.