Ach, Amerika, du hast es besser. Zumindest lyrisch scheinen die USA immer noch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu sein. Die Nobelpreisträgerin 2020, Louise Glück, schreibt hier ihre Verse und erfreut sich nicht nur in Insiderkreisen beträchtlicher Beliebtheit. Und Highlight der Amtseinführung Joe Bidens jüngst war - nein, nicht die Rede des neuen Präsidenten, auch nicht die von Lady Gaga präsentierte Hymne, sondern: ein Gedicht, vorgetragen von der 22 Jahre alten Amanda Gorman. "The Hill We Climb" hieß es, und es war vor allem eines - berührend. Mutmachpoesie sozusagen, nicht allzu tiefsinnig, nicht allzu verrätselt, aber sprachlich doch so fein gestaltet, dass man von Rhythmus und Melodie des Vortrags tatsächlich mitgerissen wurde.

Eines von Gormans Vorbildern ist Maya Angelou (1928-2014), und diese Ikone der afroamerikanischen Literatur durfte 1993, als Bill Clinton sein Amt antrat, ebenfalls ein poem vortragen. Nun liegt mit "Phänomenale Frauen" (übers. von Judith Zander, Suhrkamp, 2020) erstmals eine Auswahl ihrer Gedichte vor. Wer sie liest, begreift, warum diese wahrlich phänomenale Frau - ihre Lebensgeschichte ist unglaublich, man lese ihre berühmte Autobiographie "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt" - zu einem Vorbild für Millionen vor allem schwarze Frauen in den USA wurde.

Ihre Verse stecken voller Mut und hart erkämpftem, nie überheblichem Selbstvertrauen, sie sind zärtlich und frech zugleich, und sie nutzen vor allem die sprachlichen Möglichkeiten des Englischen wunderbar aus: "now thread my voice / with lies / of lightness / force within / my mirror eyes / the cold disguise / of sad and wise / decisions." Die Übersetzung tut ihr Möglichstes, doch die knappe, singende Prägnanz solcher Verse lässt sich allenfalls näherungsweise ins Deutsche übertragen: "nun, durchfädle meine Stimme / mit Lügen / von Leichtigkeit / in meinen spiegelnden / Augen erzwinge / kalte Verkleidungen / trauriger und weiser / Entscheidungen."

Wie laut- und klangfreudig auch das Deutsche sein kann, beweist immer wieder Kathrin Schmidt. In "sommerschaums ernte" (Kiepenheuer & Witsch, 2020) ist zwar viel vom Älterwerden, vom Abschiednehmen und von Vergänglichkeit die Rede, das aber auf so lebendige Weise, dass Traurigkeit nicht wirklich aufkommen will. Besonders schön ist der Sonettenkranz "Aschene Quadrille" geraten. Da reimt sich "Gaslaterne" auf "Gottesferne", "Sternenhimmel" auf "Pinselschimmel", und das allerletzte Terzett des abschließenden Meistersonetts beschreibt wohl am schönsten das, was Verseschmiede eigentlich sind: "Drin hockt vorm Ofen stumm ein Wortentfacher. / Es ist kein Schnitter, ist ein Aschenmacher, / In seinen Augen sammelt sich Begehrnis."

So eine Wortentfacherin ist auch Daniela Danz. Für ihren jüngsten Gedichtband "Wildniß" (Wallstein, 2020) ist sie heuer mit dem erstmals verliehenen Günter Kunert Literaturpreis für Lyrik ausgezeichnet worden, und vor allem ihre Naturgedichte sind tatsächlich phänomenal heutig - fern aller schlichten Idylle, immer irgendwo am Rande der Zivilisation verortet und mit allen Wassern der Tradition gewaschen. Darin halten "die Mücken Strafgericht", sind Berge "von Bunkern versehrt" und fungieren Bauruinen als "Rankhilfen für meine abirrenden Gedanken".

Sogar dem Coronavirus sind vier bemerkenswerte Gedichte gewidmet, dieser "aussichtslosen Zeit die nur kurz / vorm Einschlafen mit sich selbst übereinstimmt" und in der "keiner weiß welche Töne ausbrechen / wenn nach dem Innehalten wieder die Bewegung / zurückkehrt".

Nicht unbedingt idyllischer, aber deutlich magischer, ja mystischer sind die Gedichte von Dorothea Grünzweig. Sie lebt seit über zwanzig Jahren in einem Dorf in Südfinnland. Dort schreibt sie an einem ziemlich singulären lyrischen Werk, das sich allen Konventionen verweigert. Als "festlichsakralen eulengesang" könnte man ihre Sprache bezeichnen, und das Gedicht hat bei ihr oft etwas von einer Epiphanie. "Plötzlich alles da" (Wallstein, 2020) heißt nicht ohne Grund ihr jüngster Band, und ihre Poetik bringt sie so auf den Punkt: "zur stadtschreiberin eigne ich mich nicht zur wald- / und feldschreiberin wohl zur see- und flussschreiberin". Schon gar nicht kann man sie sich als Amtseinführungspoetin vorstellen, aber das ändert nichts daran, dass auch sie eine dieser "phänomenalen Frauen" ist, die "aus mundeskräften" an der Poetisierung der Welt arbeiten - jede auf ihre Weise, und nicht nur in Amerika.