Wenn Sie mich fragen, dann liefert die 1966 in München geborene Christine Wunnicke die wundersamsten historischen Romane, die heutzutage in unserer Sprache geschrieben werden. Unter anderem bringt sie einen, während man liest, recht bald zu der Frage: Woher will sie das alles wissen? Wir kennen ja die Debatte: Fiktion ist immer Fiktion, und es ist kleinlich, sich etwa über Kühlschränke in Wohnungen der Römerzeit aufzuregen, wenn es doch die Phantasie des Dichters will, und so fort. Beim Lesen indes läuft trotzdem jederzeit unvermeidlich eine Realitätsprüfung mit, gerade auch bei größerer Entfernung in Raum und Zeit, oder wenn meinetwegen der Leibhaftige sich plötzlich im Moskau der dreißiger Jahre materialisiert und dort seinen Schabernack treibt.

Und wenn es richtig gut läuft, überkommt einen am Ende das schöne, zugleich aber befremdliche Gefühl, man sei dabei gewesen. Als Beispiele für das Auftreten dieses Gefühls könnte man Hilary Mantels "A Place of Greater Safety" (auf Deutsch "Brüder") oder Leo Tolstois "Krieg und Frieden" nennen, beides gewaltige Wälzer, deren Wirkung freilich auch auf dem gelungenen Umfang-Management beruht. Man liest sich in sie hinein wie in eine Fernsehserie - und ist am Ende mit den handelnden Personen quasi verwandt.

Wunnickes Bücher sind im Gegenteil überaus schmal, bringen das Kunststück aber ebenfalls zuwege. Knapp aus einer gedachten großen Stoffmenge herausgeschnittene Episoden folgen rasch aufeinander, und kaum hat man sich, bildlich gesprochen, gemütlich hingesetzt, ist die Angelegenheit auch schon wieder vorbei.

Und welche historischen Episoden sie da entdeckt und für uns inszeniert! Stöbert man in Besprechungs-Übersichten wie dem "Perlentaucher", so finden sich immer wieder Rezensentinnen und Rezensenten, die "hingerissen", "tief beeindruckt" oder "hin und weg" sind von Sarkasmus, Hintersinn, Komik, Klugheit oder Esprit (etwa angesichts des 2017 erschienenen, seinerzeit hier besprochenen Romans "Katie"). Obgleich anscheinend dauernd versucht wird, Christine Wunnicke einem breiteren Publikum schmackhaft zu machen, scheint das nicht recht zu gelingen, und sie bleibt, was man einen "writer’s writer" nennt. Das ist zwar schade, zumal in einer Zeit, da das "Lob des Schwierigen" ohnehin nicht mehr en vogue ist, aber sei’s drum. Loben wir sie noch eine Runde weiter in der Hoffnung, wenigstens den einen oder anderen für ihre Bücher zu begeistern.

- © Berenberg Verlag
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Im zuletzt erschienenen Roman (Die Dame mit der bemalten Hand. Berenberg Verlag, Berlin 2020, 167 S.) begegnen einander, im Jahr 1764, ein deutscher Forscher und ein persischer Astronom auf der Insel Elephanta, vor der indischen Küste in der Nähe von Bombay (politisch korrekt heute Mumbai), und führen uns anschaulich vor, wie schwierig es ist, Angehörige fremder Kulturen - oder diese Kulturen insgesamt - auch nur im Ansatz zu verstehen. Oder anders gesagt: gar nicht thesenhaft, sondern fast nebenbei wird uns geschildert, dass Menschen zu allen Zeiten und in allen Ländern einander doch immer überraschend ähnlich sind, zugleich so verschieden, wie es verschiedener gar nicht geht, und wie man sich über diese Verschiedenheit hinweg doch über manches verständigen kann.

Im selben Jahr ist im selben Verlag die erstmals schon 2010 veröffentlichte Novelle "Nagasaki, ca. 1642" erschienen, die ich mit dem Prädikat "selbst für abgebrühte Leser überraschend schräg" versehen würde. Wie der Titel schon andeutet, finden wir uns hier im Japan des 17. Jahrhunderts wieder, die handlungsbestimmende Begegnung ereignet sich diesmal zwischen einem holländischen Seemann und einem älteren, aber immer noch gut trainierten Samurai-Krieger. Geschildert wird die ganze Chose aus der Perspektive des Japaners, was beinhaltet, dass die Kenntnis aller japanischen Dinge sozusagen vorausgesetzt ist, während wir den Europäer als das Fremde und somit Unbegreifbare schlechthin erleben dürfen.