Wie viele Forderungen von "Fridays for Future" hat er bereits vorweggenommen? Würde er den polarisierenden Aktivismus der "Last Generation" begrüßen oder verurteilen? Und was hätte er zu Greta Thunberg gesagt? Konrad Lorenz, Vordenker der Umweltschutzbewegung, Verhaltensforscher und Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie (1973), kann das leider nicht mehr gefragt werden. Er ist 1989 gestorben.
Anhaltspunkte, wie seine Antworten lauten würden, hat Lorenz, der heuer seinen 120. Geburtstag feiern würde, aber in einem Werk versammelt, das vor 50 Jahren, im Februar 1973, erschienen ist und zu einem Best- und Longseller wurde: "Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit" ist der programmatische - und zum aufrüttelnden Inhalt gut passende - Titel des 109 Seiten umfassenden Buches, das zu Lebzeiten von Lorenz hunderttausende Leser fand und auch heute noch, in der 40. Auflage, im Buchhandel erhältlich ist (Piper Verlag).
Lorenz spannt darin einen großen Bogen: von der Warnung vor einer Übervölkerung der Erde, über psychologische Befunde des zivilisierten Menschen bis zur Kritik an Kernwaffen. Aus dem wissenschaftlichen Elfenbeinturm getreten und zu breiter Bekanntheit gelangt war er bereits davor, ab 1949, mit populärwissenschaftlichen Büchern, in denen er unter anderem seine Studien an Graugänsen für naturwissenschaftliche Laien (und auch für Kinder) zugänglich machte.

Trotzdem war an eine Publikation der "Acht Todsünden" ursprünglich nicht gedacht. Zumindest stellt Lorenz das so dar: "Die vorliegende Abhandlung ist für die Festschrift geschrieben worden, die zum 70. Geburtstag meines Freundes Eduard Baumgarten erschien. Ihrem Wesen nach paßt sie eigentlich weder zu einer so freudigen Gelegenheit noch zur fröhlichen Natur des Jubilars, denn sie ist eingestandenermaßen eine Jeremiade, eine an die ganze Menschheit gerichtete Aufforderung zu Reue und Umkehr, von der man meinen könnte, daß sie einem Bußprediger, wie dem berühmten Wiener Augustiner Abraham a Santa Clara, besser anstünde als einem Naturforscher."
Diese donnernden Worte finden Beifall und Widerhall. Lorenz wird von seinen "besten Freunden kategorisch aufgefordert, die Schrift einem weiten Leserkreis zugänglich zu machen" - und letztlich findet auch er selbst, dass es heute "der Naturforscher ist, der gewisse Gefahren besonders klar zu sehen vermag". Und ihm darum "das Predigen zur Pflicht" wird.
Eine Pflicht, der sich Lorenz - frei nach dem Motto: Wenn schon, denn schon - nicht nur mit der gedanklichen Disziplin eines Wissenschafters und ohne Rücksicht auf Verluste, sondern auch mit sprachlicher Wucht widmet. Allein schon seine Klage über die "Verwüstung des Lebensraumes" bringt Politik und Wirtschaft in der gesamten entwickelten Welt in - unvermindert anhaltenden - Zugzwang. Und mit seinen Analysen zum "Wettlauf mit sich selbst", dem "Wärmetod des Gefühls" und dem "Abreißen der Tradition", legt er konsequent nach und führt zu grundsätzlichen Fragen:
Sind die derzeit dominierenden Systeme der Politik und Ökonomie in der Lage, ohne Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens die tendenziell wachsenden Bedürfnisse einer wachsenden Weltbevölkerung nachhaltig - also zeitlich unbegrenzt - befriedigen zu können? Oder führen sie vielmehr zu einer Dehumanisierung, die nicht nur unsere heutige Zivilisation und Kultur, sondern die Menschheit als Ganzes mit dem Untergang bedroht?
Im Visier hat Lorenz auch die Wissenschaft. Die Ergebnisse seiner eigenen Forschungen - die überwiegend auf Beobachtungen und Vergleichen beruhen - führen ihn zur Kritik, dass sich etwa die experimentelle Psychologie viel zu sehr an der Physik orientiere, statt, was dem Gegenstand der Untersuchung angemessener wäre, an der Biologie. Das Ergebnis sei, dass sie den Menschen formbarer und als vom Milieu beeinflussbarer darstellt, als er es ist.
Es ist im Detail wie im Ganzen die Kritik eines Konservativen. Und sie steht dem noch ungetrübten Glauben an Wachstum und Fortschritt, der in Österreich und in der westlichen Welt Anfang der 70er Jahre herrscht, diametral entgegen. Die Wirtschaft boomt, das Motto vieler junger Menschen am Anfang der Ära Kreisky lautet "Sex, Drugs and Rock n Roll", und an den Universitäten weht seit 1968 ein anderer Wind. Über "Grenzen des Wachstums" zerbrechen sich nur wenige Menschen ernsthaft den Kopf. Und die Gefahren des Klimawandels sind selbst in akademischen Zirkeln noch unbekannt.
Ob Konrad Lorenz, der damals diesbezüglich vermutlich auch noch ahnungslos und vielleicht nur deswegen grundsätzlich optimistisch war, Lösungen für alle die von ihm beschriebenen Probleme hatte? Das hat er selbst nicht geglaubt. Dass er wichtige und unbequeme Fragen früh und furchtlos gestellt hat, lässt sich aber heute kaum leugnen. Kaum leugnen lässt sich auch, dass es Lorenz dabei nicht gelungen ist, den heutigen Forderungen nach politisch korrekter Ausdrucksweise zu genügen. Seine Wortwahl hat schon damals irritiert.
Für die Verbrechen der Nazis fand Lorenz - nachträglich - zwar verurteilende Worte, der schwer zu entkräftende Verdacht, sein Verständnis von Ethologie sei in ideologischer "Nähe zum NS-Regime" geblieben, steht aber immer noch im Raum. Ein unvoreingenommener Blick zurück auf seine in manchen Punkten vom Erkenntnisfortschritt deutlich überholte, in Summe aber keineswegs anachronistisch wirkende Zivilisationskritik wäre dennoch hilfreich.