Charles Simic ist tot. Der 1938 in Belgrad geborene Lyriker und Essayist starb Anfang Jänner in seiner zweiten Heimat New Hampshire. Mit 15 Jahren war er in die USA gekommen und zu einem der bedeutendsten englischsprachigen Poeten geworden. Am Ende dieses langen Dichterlebens standen fast 40 Gedichtbände und zehn Bücher mit Prosa und Essays. Einiges davon ist auch ins Deutsche übersetzt worden, und wie so oft war es das literarische "Trüffelschwein" Hans Magnus Enzensberger, der ihn für den deutschen Sprachraum entdeckt und erstmals übersetzt hatte (und der, wie der Zufall es will, nur sieben Wochen vor Simic starb).

Nun ist - auch das vielleicht eine poetische Koinzidenz - ein paar Monate vor seinem Tod noch einmal ein Band mit Gedichten von Charles Simic erschienen: "Im Dunkeln gekritzelt" heißt er (Hanser, 2022), und er enthält gleich zwei Lyrikbände, die 2017 und 2019 im Original erschienen sind (der letzte Band zu Lebzeiten kam 2022 heraus und trägt den bezeichnenden Titel "No Land in Sight"). Und natürlich liest man diese gewohnt lakonischen, wie immer den alltäglichen Dingen gewidmeten Gedichte jetzt anders als noch im Herbst: Sie wirken todesnäher, nachdenklicher, "endlicher", und das Schlussgedicht, das den bezeichnenden Titel "Letztes Picknick" trägt, treibt einem nun fast die Tränen in die Augen: "Ehe die Herbstregen kommen, / Wollen wir noch ein Picknick machen, / Jetzt, wo die Blätter die Farbe wechseln / Und das Gras an manchen Orten noch grün ist."
Ja, es sind Altersgedichte, Poeme aus dem Herbst des Lebens, aber sie sind von Charles Simic, und deshalb haben sie bei aller sanften Melancholie immer auch etwas Heiteres, Leichtes, Schwebendes an sich. Einen "frommen Skeptiker" nannte ihn ein Kritiker einmal, und skeptisch war er in der Tat gegenüber allen "großen Erzählungen", aber auch gegenüber der allzu selbstverliebten Selbstbespiegelung im lyrischen Ich. Seine Frömmigkeit galt der Sprache - "only a few words to play with", das war für ihn der Quell jedes Gedichts - und den Dingen, und darin war er ein getreuer Schüler des großen William Carlos Williams und dessen berühmten Diktums: "No ideas but in things". "Dinge sehen" nennt er das, und was das Schreiben für Simic bedeutet hat, beschreibt gleich das Eingangsgedicht: "Habe mich zugedeckt / mit Worten. // Jede Nacht wieder / Zugedeckt // In Erwartung / Des großen Schwamms."
Übersetzt haben die Gedichte Michael Krüger und Wiebke Meier, und das Einzige, was es an diesem wunderschönen Band zu bemängeln gibt, ist, dass er die englischen Originalfassungen nicht enthält. Gerade bei Gedichten aber wäre das fast unabdingbar, denn es gibt kaum Schwereres, als Lyrik zu übersetzen, zumal solche, die der Prägnanz und Kürze des Englischen frönen. Und bei aller Freiheit des Übersetzens macht es natürlich schon einen Unterschied, wenn es im eben zitierten Eingangsgedicht im Original am Ende heißt: "Anew against / The pending eraser". Hier deckt sich also der Dichter mit Worten immer wieder aufs Neue zu, als Schutz "gegen" den drohenden "Ausradierer". Das klingt dann doch etwas anders als Krügers erwartungsfrohe Übertragung. Zwar kann eraser tatsächlich den Tafelschwamm bezeichnen, aber der Aspekt des Auslöschens ist im Deutschen allenfalls noch erahnbar und deutlich weniger bedrohlich. Das spricht nicht gegen die Übersetzung (die etwa den Rhythmus des Originals wunderbar einfängt), aber es zeigt, dass Lyrikübersetzung immer auch Nachdichtung ist.

Wie schön und lektürevertiefend es ist, zwischen Original und Übersetzung hin und her zu springen, zeigt "Ich bin nicht", das Debüt des jungen Sam Zamrik (Hanser Berlin, 2022). Der 1996 in Damaskus geborene Lyriker lebt seit seiner Flucht in Berlin und schreibt seine Gedichte auf Englisch (das er in Syrien studiert hat). Einige hat er sogar selbst übersetzt, andere wurden von Kollegen wie Monika Rinck oder Björn Kuhligk übertragen. Im Mittelpunkt steht hier die Selbstvergewisserung, der Versuch, trotz aller Traumata und Wunden so etwas wie den Kern des eigenen Ichs zu finden. Dieses Ich aber ist Patchwork, in jedem Gedicht anders, und jedes Gedicht ist "wie ein Leben: eine Unwahrscheinlichkeit, / die sich in etwas / gekleidet hat".
Zamriks Englisch verfügt über deutlich weniger Register als das von Simic, aber gerade diese sprachliche "Reduktion" verschafft ihnen eine enorme Eindringlichkeit und Direktheit. Für die Übersetzer macht das die Sache vermutlich etwas einfacher, sie laufen eher Gefahr, die Verse im Deutschen ein wenig "poetischer" klingen zu lassen als im oft fast schroffen, unverstellten Original.
Auch Charles Simic arbeitete im Übrigen als Übersetzer, und in einem schönen Gedicht ("Schneemorgenblues") hat er ihn sich als "close reader" mit dicker Brille vorgestellt, der am Morgen hinausblickt auf ein verschneites Feld. Dort sieht er flüchtige Zeichen "in einer Sprache, die er recht gut kennt, / Ohne ein einziges Wort zu verstehen".