Auf die Frage, warum er seinem existenziell arg gebeutelten Helden nicht die Verheißungen der Religion vergönne, schaut Robert Seethaler flehentlich nach oben und hebt die Arme Richtung Kirchendach. Ach, er wisse gar nicht, sagt der aus Wien stammende Autor, wie viele Menschen hier, in dieser protestantischen Kirche, die nun als Kölner Kulturkirche fungiere, schon verzweifelt zu Gott gebetet hätten. Er aber habe Andreas Egger, dem "Helden" seines Romans "Ein ganzes Leben", einfach die innere Kraft zugestanden, aus sich selbst heraus mit dem Leben fertig zu werden. Ganz ohne Hilfe von oben.
Die Geschichte des Hilfsknechts und Seilbahnbauers Andreas Egger ist zum überraschendsten Bucherfolg des vergangenen Jahres avanciert. Nicht nur die Kritiker fielen in großer Zahl vor der Lakonie und ruhigen Gemessenheit dieser unspektakulären Geschichte auf die Knie (manche sahen darin freilich auch "Alpenkitsch"), auch die Leser griffen begierig nach dem nur 160 Seiten umfassenden Buch eines – wie der Titel unmissverständlich klarstellt – ganzen, wenn auch kargen Lebens und hielten es monatelang in den Bestsellerlisten.
Als Robert Seethaler nun bei der 15. Auflage der LitCologne mit seinem jüngsten Roman auftrat, stand – wie bei Lesungen üblich – weniger das Buch als mehr sein Autor im Rampenlicht. Eine Rolle, die dem in Berlin lebenden Schriftsteller und Schauspieler (bekannt etwa aus der TV-Serie "Ein starkes Team") zumindest als Autor nicht besonders liegt – obwohl er sie durchaus kauzig, schrullig und versonnen-nachdenklich anzulegen versteht. Nach jeder Frage der Moderatorin hält er die Hände an den Kopf, wartet mit der Antwort mitunter enervierend lange zu – und sagt dann bedächtige Sätze wie: "Jeder Satz ist ein erster Satz", wenn es um die Schwierigkeiten am Beginn eines jeden Buches geht. Oder auf die Frage, warum dieser, sein insgesamt fünfter Roman, im Gegensatz zu den vorigen weniger bis gar nicht lustig ausgefallen sei: Hände an die Stirn, Pause, Räuspern: Er finde ihn ja eh lustig, aber halt von einer eher stillen Komik. Und dann entkommt Seethaler, wie mehrmals an diesem Abend, ein zuerst schüchterner, dann krächzender, schließlich leicht irre wirkender Lacher.
Dass sein Roman keiner der Berge sei, als der er vielfach (miss-)verstanden worden sei, sondern viel mehr einer der Stille, die – so wie die Figur des Andreas Egger – direkt aus seinem, also des Autors Herzen komme – mit dieser erstaunlich einfachen Selbstinterpretation dürfte der Autor freilich richtig liegen und den Erfolg des Buches zureichend erklären können. Es gibt sichtlich eine Sehnsucht nach dem Stillen, Einfachen, Unaufgeregten – weg von allem Übertriebenen, Selbstdarstellerischen, Eitlen, Artifiziellen. Gerade in der Literatur. Der soeben verliehene Leipziger Buchpreis an Jan Wagner und dessen zum Naturhaft-Randständigen neigenden Lyrikband "Regentonnenvariationen" spricht ebenfalls für diesen Trend.
Man trägt sein Leben unheroisch. Deswegen bekommt Seethaler auch einen kurzen rumpelstilzchenhaften Anfall (er trommelt mit den Fäusten auf den Tisch und ruft "Nein nein nein"), wenn der zweite Autor des Abends, Hanns Zischler, in Andreas Eggers geduldigem Erdulden seines harten Lebens eben doch einen "heroischen" Zug erkennen will.
Auch Zischler ist trotz seiner vielen auffallenden Talente und Tätigkeiten – Publizist, Schauspieler, Übersetzer, Fotograf und Regisseur – ein eher stiller, nachdenklicher Mann. Und auch er las in der Kölner Kulturkirche aus einem schmalen Büchlein vor: "Das Mädchen mit den Orangenpapieren"; die Geschichte von Elsa, die es in den 50er Jahren von Dresden in die bayerische Bergwelt verschlägt, wo es ihr auch nicht viel besser ergeht als Egger in der österreichischen. Also ebenfalls etwas für ruhige Gemüter, und – wenn die gelesenen Auszüge nicht täuschen – von bestenfalls gehobener Langeweile.
Das mit der Bescheidenheit, die diese beiden sympathisch zurückhaltenden Autoren auszeichnet, ist gut und schön. Aber halt auch ein bisschen fad. Man bekommt – kein Wunder in einer Kirche – bei so viel Andacht rasch Lust auf Ausgelassenheit. Nach diesen literarischen Fastenkuren – kein Wort zu viel ist ihre diätetische Programmatik – hat man einen fast gierhaften Appetit auf sprachliche Schlemmereien, der wohl nur mit literarischen Cholesterinbomben von Jean Paul, Arno Schmidt oder Herzmanovsky-Orlando zu stillen sein wird.