
640 Seiten hat Juli Zehs neuer Roman, "Unterleuten" (Luchterhand Verlag). Weniger wäre nicht gegangen, sagte die Autorin am Samstag bei ihrer ersten öffentlichen Lesung daraus, auf dem "Literaturschiff" am Kölner Rhein, im Rahmen der LitCologne. Es sei schließlich ein Gesellschaftsroman - und der brauche nun einmal einen entsprechenden Umfang. Die Gesellschaft, in der es darum geht, ist überschaubar - und doch komplex. Es sind die Bewohner des (fiktiven) märkischen Dorfes Unterleuten, in der brandenburgischen Tiefebene, rund 70 km von Berlin entfernt. Die große Welt in der kleinen - oder vielleicht auch umgekehrt.
Fast zehn Jahre habe sie daran geschrieben - immer wieder und auch neben anderen Texten, sagt Zeh, "seit ich selbst in der Gegend lebe". "Noch", sagt Moderator Frank Plasberg, der den Roman mit all seinem Personal für autobiografischer hält, als Zeh ihn konzipiert haben will. Obwohl sie zugibt, dass viel von ihr - und damit wohl auch von anderen - in dem Buch stecke. Aber sie vertraue auf die verbreitete Lese-Unlust, sodass sich wohl kaum jemand aus der Gegend in den Wälzer vertiefen und eventuell selbst erkennen werde
Die handelnden Personen sind also allesamt erfunden (auch die beiden kontroversiellen Dorf-Granden, ein Ex-Kommunist und ein Ex-Unternehmer) - und selbst die Vogelart, die im Naturschutzgebiet von Unterleuten vorkommt, ist nicht authentisch - wenn auch nicht erfunden: "Ich habe einfach bei Google gesucht, unter ,Vogel selten", erzählt Zeh. Und herausgekommen sei ein Federvieh mit dem wunderbaren Namen "Kampfläufer": "Hier bin ich, dein Buchcovervogel", habe er ihr förmlich zugerufen. Und so lief das kämpferische Getier quasi auf die Vorderseite des Buchumschlags.
In dem Dorf, in dem ein Windkraftpark errichtet werden soll, gibt es viel Liebe & Kabale, verschlungene Nähe & politisches Gezänk. Und viel Tratsch & Klatsch. "Das ist doch schweine-interessant!", sagt Zeh. "90 Prozent unseres Redens ist Klatsch - sonst könnten wir ja nur übers Wetter sprechen, und das wäre zu langweilig."
Und geredet und geklatscht wird in der Folge auch bei dieser Lesung viel - mehr als gelesen. Was gut ist, denn TV-Talkmaster Plasberg und die aufgeweckt-selbstbewusste, aber auch selbstironische Autorin spielen ein rasantes, gewitztes Talk-Ping-Pong, mit fein angeschnittenem Sarkasmus, aber auch dem einen oder anderen Schmetterball. Während Plasberg sich in eine der (männlichen) Figuren im Buch regelrecht verhasst hat, findet Zeh an ihr - zumindest literarisch - Gefallen: "Ein Geschenk für einen Autor - denn er hat alles, worüber man sich lustig machen kann": ein in die Jahre gekommener Ex-Linker, ein Grün-Pionier - zuerst für Windenergie, dann - als sie ihm vor die Nase gebaut werden soll - heftigst dagegen, also ein Leben mit all den Widersprüchen, die für ein einziges semipolitisches Leben dann doch zu viel sind. "Ich habe ihn mit viel Anteilnahme in den Untergang begleitet", sagt Zeh, die - als zweifache Mutter und Ehefrau - selbst nur (mehr) in den Morgenstunden zum Schreiben kommt. "Ich schreibe langsam und wenig - das aber beständig", sagt die ausgebildete Juristin, die mittlerweile gut von der Literatur leben kann. "Da kommt dann eben auch einiges zusammen". Auch mal 640 Seiten, die - wenn sie nur halb so unterhaltsam sind wie diese Veranstaltung - jedenfalls lesenswert sind.
Siehe auch Interview mit Juli Zeh in der "Wiener Zeitung".