
Bei diesem 820-Seiten-Schmöker versagt die bisherige - zugegeben etwas bequeme - Methode, sich mittels einer Lese-Veranstaltung einen ungefähren Überblick über ein Werk zu verschaffen (und sich - je nachdem - Appetit oder eher Unlust darauf zu holen). Dafür ist dieser Roman des gebürtigen Engländers, der - nach acht Jahren in Hiroshima - nun in Irland lebt, einfach zu komplex. Was heißt einfach: er ist zu vielschichtig komplex. David Mitchells "Die Knochenuhren" (Rowohlt Verlag, übersetzt von Volker Oldenburg) besteht aus nicht weniger als sechs Novellen, die oberflächlich nichts miteinander zu tun haben, letztlich aber doch aufs Raffinierteste in- und miteinander verschränkt sind ("interlinked", wie der neudeutsche Ausdruck dafür lautet). Dafür muss man sie aber alle lesen. Und damit nicht genug. Auch die bisherigen sechs Romane des Briten (wovon "Wolkenatlas" der berühmteste ist, nicht zuletzt auch durch die Verfilmung von Tom Twyker und den Wachowski-Geschwistern) haben Bezüge zueinander. Und jeder dieser Romane - behauptet zumindest der Übersetzer und Moderator Bernhard Robben - verändert sich, wenn man jeweils den nachfolgenden liest.
Man kommt also in ein großes, vielfach prismatisch gebrochenes Spiegelkabinett, wenn man den literarischen Kosmos dieses eher schüchtern, dezent und very very british wirkenden Autors betritt, der nun in Köln zu Gast war. Auch wenn man dank der sehr vitalen und imaginationsfördernden Vorlesekunst der deutschen Schauspielerin Katja Riemann einen guten Einblick in das Geschehen der ersten "Novelle" dieses Romans erhielt, das ganz unspektakulär mit dem Beziehungsalltag der 15-jährigen Londonerin Holly Sykes beginnt, ahnt man (noch) nicht im Geringsten, zu welchen Verflechtungen - zwischen Realem, Surrealem und Para-Normalem - sich die "Handlung" verdichtet, wenn es in der Folge zum Kampf zwischen "Horologen" (auch hier tauchen sie also wieder auf, die Unsterblichen, ganz ähnlich wie bei Thea Dorn!) und kannibalistischen "Anachoreten" kommt. Und und und
Man bleibt daher vorerst besser bei den Selbstauskünften dieses wahrlich weit und auch breit ausholenden Schriftstellers, der es - wie wenige literarische Zeitgenossen sonst - ernst meint mit der künstlerischen & schöpferischen Rolle eines Weltenerschaffers (und die Mehrzahl ist hier bewusst gewählt). Er möchte sich nämlich nicht, wie er im Gespräch mit dem wie immer souveränen, geistesgewandten Bernhard Robben verriet, mit nur einer Facette des Dichterseins zufriedengeben. Er möchte nicht Hochliterat ODER Fantasyautor sein, sondern beides - und noch vieles mehr. Da sitzt einer an der großen Orgel und zieht möglichst alle Register. Und es sind nicht nur verschiedene, variable Genres, die Mitchell in seinen Puzzle-Romanen und Labyrinth-Novellen bedient, er erfindet darin auch noch neue Stile - und vor allem: neue Wörter. Und trotzdem - so sagen Mitchell-Leser, die weltweit eine verschworene Gemeinschaft bilden - ist diese Lektüre nicht anstrengend, sondern auf vielen Ebenen befriedigend, ja befreiend.
Als "The best book of the year" hat Stephen King "The Bone Clocks" in dessen Erscheinungsjahr (2014) gepriesen. Der Titel erschließt sich im Englischen leichter, da das Ziffernblatt dort "faces" heißt, und damit eindeutiger darauf verweist, dass es sich bei den "Knochenuhren" um eine Metapher für Menschen handelt. (Aus der Perspektive der Karnivoren bekommt diese Bezeichnung gleich eine spezielle Geschmacksnote ). Der 1969 geborene David Mitchell hat sein jüngstes Werk selbst als seine "Midlifecrisis-Novelle" bezeichnet. Andere kauften sich Sportwagen oder Motorräder, oder begännen eine politische Karriere, er habe lieber einen Roman geschrieben, in dem er die Vorstellung entwickle, dass man nicht mehr älter werde. Von allen Verrücktheiten dieses anfälligen Lebensalters zweifellos die verträglichste. Zumindest auf den ersten Blick