

560 Seiten hat dieser Roman des schottischen Autors (der 1952 in Ghana geboren wurde) - und wir können froh sein, dass es nicht 5000 geworden sind. Denn wenn ein ganzes Leben erzählt wird, von der Wiege fast bis zur Bahre, kommt schon einiges zusammen. Erzählt wird das Leben der englischen Fotografin Amory Clay - über eine Zeitstrecke von gut 80 Jahren hinweg: von der Kindheit und den fotografischen Anfangsjahren in London, über das Berlin der 20er Jahre, das Paris der Besatzungszeit bis nach Vietnam, wohin es die unermüdlich Reisende und Kriegsberichterstatterin schließlich verschlägt.
Man kann die Katze gleich aus dem Sack lassen - und das nicht nur, weil William Boyd diesen Kunstgriff bei seinem Auftritt in Köln freizügig offenbarte (es war auch zuvor schon bekannt geworden): Dieses gesamte, in vielen Details beschriebene Leben ist völlig frei erfunden!
Es ist nicht das erste Mal, dass Boyd solcherart verfährt: Bereits 1998 hatte er eine Biographie des New Yorker Malers Nat Tate veröffentlicht, die ebenfalls rein fiktiv war (was damals nicht so rasch erkannt wurde; dabei wäre der Name, der sich aus zwei Kunstinstitutionen zusammensetzt - der National Gallery und dem Tate Museum - so schwer nicht zu entschlüsseln gewesen
).
Das ist das Besondere an diesem Autor: Dass er in seinen Romanen ("Die Fotografin", auf Deutsch erschienen im Berlin Verlag, ist bereits sein 19.) so realistisch wie möglich verfährt - und doch das Allermeiste darin nicht der Wirklichkeit entspricht. Boyd ist also, wie der Literaturkritiker Elmar Krekeler einmal treffend festgestellt hat, ein literarischer Kunstfälscher der speziellen Art.
In seinem jüngsten Werk erhöht Boyd den realistischen Eindruck noch durch in den Text eingefügte s/w-Fotografien - teils von Amory Clay (auch das ein durchaus sprechender Name, wie Boyd sie liebt) angeblich selbst gemachte, teils sie selbst darstellende. Tatsächlich sind es allesamt anonyme Bilder, die der Autor an diversen Stellen eincollagiert hat. Das verschwommene Jugendbildnis der Bildreporterin etwa (man kann ihr Gesicht darauf nicht wirklich erkennen) hat ein Freund bei einer Bushaltestelle in London gefunden - und Boyd geschenkt, nicht wissend, woran der gerade schrieb. Fast 2000 solcher anonymen Fotos hatte der Autor in der Vorauswahl, bevor er sich für 19 entschied. Wie er in Köln (wiederum vom Übersetzer und Moderator Bernhard Robben einfühlsam befragt) ebenfalls zugab, musste er den Roman, den er bereits vorher fertiggeschrieben hatte, an einigen Passagen, an denen er hinterher Fotos einfügte, umschreiben, damit Text und Bilder nun zusammenpassen. (Selbst bei den Danksagungen am Ende des Buches hat er - neben zahlreichen existierenden Personen - einige fiktive eingeschmuggelt
)
So interessant und kühn alle diese Kniffe und Tricks, die Boyd bei der Konstruktion seiner "Ganze-Leben-Romane" anwendet, auch sind - so wenig aufregend lesen sich dann die Ergebnisse. Auch die Hörproben, welche die Schauspielerin Maria Schrader bei der Lesung aus der "Fotografin" in Köln zum Besten gab, waren von mäßiger Spannung und Raffinesse. Es ist eine gediegene, handwerklich ausgereifte Beschreibungsprosa, die der Schotte (seit 2005 als "Commander of the British Empire" ausgezeichnet) vorlegt - ohne allzu große stilistische Ambitionen, von beiläufiger Eleganz.
Im Gegensatz etwa zu David Mitchell und dessen explosivem literarischen Genre-Mix ist Boyd ein nachgerade konservativer Autor - mit stets berechenbaren, soliden Textgebilden. Einst hat er dafür den Somerset-Maugham-Award erhalten. Das ist die richtige (Preis-) Kategorie.
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Damit hat es sich - für mich - nun mit den belletristischen Dickleibern, die in der Manege dieses Literaturzoos heuer mehr oder weniger pompös auftraten. (Ein Blog folgt morgen noch über den Auftritt von André Heller bei der LitCologne, mit seinem erst demnächst erscheinenden, mitteldicken Roman "Das Buch vom Süden").
Während also tausende Seiten hier an mir hier repräsentativ vorbeizogen, habe ich mittlerweile drei schmale Bändchen mit großem Gewinn tatsächlich gelesen, die ich allesamt gerne weiterempfehle: und zwar die persönlichen, zum Teil weit vom Thema abschweifenden Notate des belgischen Autors Jean-Philippe Toussaint ("Fußball", Frankfurter Verlagsanstalt); die kurzen Einlassungen von Kult-Regisseur David Lynch zu den Themen Meditation, Kreativität und Film ("Catching the Big Fish", Alexander Verlag Berlin); und die immer wieder lesenswerten, weil zeitlosen Studien zur "Philosophie des Stattdessen" des vor einigen Monaten verstorbenen Odo Marquard (Reclam). Dünne Bücher sind ein Segen.