Ich hätte ja so gern Leichen im Keller. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Ich kann, jedenfalls ab einem musikalisch halbwegs haftfähigem Alter - 13, 14 Jahre -, keine "Guilty Pleasures", also keine peinlichen musikalischen Favoriten benennen. Niemals haben sich irgendwelche Rainhard Fendrichs, Stings oder U2s heimtückisch in meine Favoritenliste eingeschlichen.
Aber, oh Schande!, auch Kollegen und Experten versagen erbärmlich bei der Performance geschmacklicher Sturzflüge. Walter Gröbchen nennt Manfred Manns Earthband als "Jugendsünde" - mit dem Zusatz, dass ihm die nicht wirklich peinlich sind. Ja, wie denn auch, als eine der interessantesten Rockbands der früheren 70er Jahre! "extra"-Chef Gerald Schmickl beschreibt in seinem Buch "Lob der Leichtigkeit" (Edition Atelier, 2011) seine bisweilen leicht unterdrückte Sympathie "zu gewissen, in der Popelite als ,uncool geltenden Bands wie etwa Coldplay, Snow Patrol oder Razorlight". Aber wer kann etwas gegen die melancholische Grandezza von Snow Patrol haben? Razorlight sind auch nicht weiter schlimm und selbst Coldplay waren anfangs eigentlich wohlgelitten, bis sie etwas zu viel die Welt umarmten. Und mit David Gates, den Schmickl in nostalgischem Sentiment ebenfalls unterschwellig entschuldigend anführt, ist schon gar kein Hofstaat zu machen: Jemand, der "Guitar Man" und "Everything I Own" geschrieben hat, ist auf alle Zeiten ex obligo.
"Ich finde eigentlich nichts mehr uncool", erklärt wiederum Robert Rotifer. "Ein gutes Beispiel dafür, wie sich das verschoben hat, ist ,Nicola von Bert Jansch, das Album, das 1967 als sein etwas peinlicher Ausflug in den Kommerz betrachtet wurde. Entledigt vom Ballast des Coolness- und Credibility-Dogmas, ist das eines seiner allerstärksten Werke."
Über Fabrizio De André (der mit dem "Andrea"-Hit), durch dessen Back-Katalog er sich gerade pflügt, sagt Rotifer: "Wenn der aus dem angloamerikanischen Raum gekommen wäre, würde man ihn auf der ganzen Welt so verehren wie Leonard Cohen, da besteht gar kein Zweifel." Und "Present Tense", das 68er-Debüt des hauchzart psychedelisch durchwirkten Westcoast-Studio-Projekts Sagittarius, das Rotifer gerne beim Autofahren hört, könnte womöglich sogar einen Vergleich mit dem Monolithen "Forever Changes" von Love anregen. Auch was Rotifer sonst noch nennt - The Weather Station, James Yorkston & The Second Hand Orchestra, Conny Frischauf, Midnight Sister -, kann niemanden aus der Fassung bringen.

Anders ist das bei Chilly Gonzales: In einem Buch, das im letzten Herbst in der "Musikbibliothek" von Kiepenheuer & Witsch erschienen ist, bekennt sich der kanadische Pianist und Vokalist zur irischen Sängerin Enya, der Meisterin des einlullenden New-Age-Schwulsts, der ungefähr das Gegenteil von allem repräsentiert, was wir an Pop lieben: "Wenn ich Enya höre, denke ich, alles wird gut. Ich stelle mir dann vor, ich bin ein Baby und werde von einer irischen Märchenprinzessin in den Schlaf gesungen", stellt Gonzales gleich am Anfang klar.
Es ist im Prinzip die Geschichte seiner eigenen, vom Drang zu beeindrucken geprägten musikalischen Sozialisation, die Gonzales in dem äußerst lesenswerten Büchlein erzählt. Am Ende des "langen und schmerzhaften Abschieds von meiner Bewunderung für Angeber" trifft er sich mit Enya und der simplen, egolosen Funktionalität ihrer Musik. Dass die Lektüre tatsächlich den Impuls weckt, Enya jetzt anders zu hören als tausende Male zuvor aus dem Radio, ist ein Wunderwerk der Verführung.