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Das osteuropäische Experiment

Von Ralph Schöllhammer

Gastkommentare

Die demografische Krise wird sich nicht rein über Zuwanderung lösen lassen.


Vor dem Hintergrund der Migrationsdebatte finden momentan in Europa zwei simultane Experimente statt. Konfrontiert mit einer laut UNO historisch beispiellosen demografischen Krise, stehen die Staaten Europas vor der Entscheidung, ihre überalternden Gesellschaften entweder durch neue Wege in der Familienpolitik oder durch eine Erhöhung der Zuwanderung zu verjüngen.

Besonders in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind die Geburtenraten signifikant unter das Stabilisierungsniveau von 2,1 Kindern pro Frau auf eine Fertilitätsrate von nur noch 1,5 gesunken. Im Westen Europas sind die Zahlen etwas ermutigender, aber auch hier weit unter den für eine gleichbleibende Bevölkerungszahl notwendigen 2,1 Kindern. Deutschland und Österreich stehen bei knapp 1,6, und selbst das angeblich so familienbewusste Frankreich ist mit 1,9 nicht in der Lage, der Überalterung Herr zu werden. Der EU-Schnitt liegt bei unter 1,6 Kindern pro Frau, was bedeutet, dass bei gleichbleibendem Trend die autochthone Bevölkerung Europas sich mit jeder Generation halbieren würde.

Aus diesem Grund sahen besonders Ökonomen in der Migrations- und Flüchtlingswelle eine Chance, das europäische Geburtendefizit auszugleichen. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, sprach gar von einer "kulturellen und wirtschaftlichen Renaissance", die durch die Welle an Zuwanderung ausgelöst werden könnte. In weiten Teilen Westeuropas gilt immer noch die Annahme, dass kulturelle Konflikte wirtschaftlich lösbar seien und mit einer Öffnung des Arbeitsmarktes, Sprachinitiativen und Förderungsstrukturen die kulturellen Unterschiede zwischen einheimischer und zugewanderter Bevölkerung verschwinden würden.

Maßnahmen zur Familienförderung

In Osteuropa sieht man diese Annahme skeptischer, und die Wirtschaft wird nicht als potenzieller Integrationsmotor verstanden, sondern als Möglichkeit, eine weitreichende Familienförderungspolitik zu betreiben. Dadurch will man der demografischen Herausforderung beikommen, aber gleichzeitig so weit als mögliche eine kulturelle Homogenität bewahren.

Ungarn hat es sich zum Ziel gesetzt, bis spätestens 2030 eine Fertilitätsrate von 2,1 zu erreichen und damit die Bevölkerung auf gleichbleibendem Niveau ohne nennenswerte Zuwanderung zu stabilisieren. Ungarn investiert bereits jetzt beinahe 5 Prozent des BIP in die Familienförderung, und Premier Viktor Orbán meinte es ernst, als er 2018 zum "Jahr der Familie" erklärte.

Das ungarische "CSOK"-Programm gewährt Familien, die sich zu einem dritten Kind entschließen, bis zu 10 Millionen Forint (circa 31.000 Euro), wenn dieses Geld zum Hausbau verwendet wird. Gleichzeitig wurde die Steuergesetzgebung erleichtert, um Familien zu begünstigen. Der momentane ungarische Bauboom ist eine direkte Konsequenz von Orbáns "Drei-Kind-Politik."

In Polen hat die Regierungspartei PiS ebenfalls ein Maßnahmenpaket zur Familienförderung beschlossen, allen voran das Programm "Familie 500+", das Familien ab dem zweiten Kind 500 Zloty (115 Euro) steuerfrei als zusätzliches Familiengeld gewährt. Laut Weltbank war das Programm maßgebend in der praktischen Eliminierung der extremen Kinderarmut, wenngleich seine Auswirkungen auf die Geburtenrate umstritten sind.

Selbst in Russland hat man den Kampf gegen den demografischen Niedergang zur Chefsache erklärt und ein "CSOK" ähnliches Programm eingeführt, in dem eine zweckgebundene Förderung von umgerechnet 7200 Euro ab dem zweiten Kind für Wohnraum, Bildung, oder Versorgung der Mutter gewährleistet wird. Bereits 2017 kündigte Präsident Wladimir Putin an, weitere 500 Milliarden Rubel (7 Milliarden Euro) in die russischen Familien zu investieren.

Gescheiterte Versuche in Singapur, Japan und China

Historisch gesehen sind Beispiele einer rein wirtschaftlich getriebenen Umkehr einer fallenden Geburtenquote jedoch Mangelware. Singapur hat 2017 mit 1,16 Kindern pro Frau einen neuen Tiefstand in seiner Fertilitätsrate erreicht - trotz der Einführung einer Einmalzahlung von umgerechnet fast 10.000 Euro für Familien mit zwei oder mehr Kindern. Ähnliches trifft auf Japan zu, das nach zehn Jahren vermeintlich familienfreundlicher Politik einen marginalen Anstieg von 1,37 auf 1,46 vermelden konnte. Selbst China, das einst so erfolgreich im Absenken der Geburtenquote war, hat jetzt Probleme, diese wieder anzuheben.

Man ist sich dieser Beispiele in Budapest, Warschau und Moskau durchaus bewusst, doch sehen die Unterstützer der neuen Geburtenpolitik einen Vorteil, den ihrer Meinung nach die Staaten Asiens nicht haben: die explizite Verknüpfung des heimatlichen Kulturbegriffes mit dem Wohl der Familie. Die Familienpolitik in Singapur und Japan ist beinahe ausschließlich technokratisch, und der Staat hat dort nur wenige Anstrengungen unternommen, die Familie auch kulturell zu fördern.

Ganz falsch ist diese Annahme nicht, wie eine Studie des japanischen Verbandes für Familienplanung zeigt: Mehr als 25 Prozent der Männer zwischen 16 und 24 Jahren haben kein Interesse oder verabscheuen sexuellen Kontakt mit dem anderen Geschlecht. Bei den Frauen erreichte dieser Wert sogar 45 Prozent. Mehr als ein Drittel aller Japaner unter 30 waren noch nie in einer längerfristigen Beziehung und haben laut Umfragen auch kein Interesse daran. In Japan scheint einiges darauf hinzudeuten, dass der Niedergang der Familie mehr kulturell als finanziell begründet ist.

Die Entscheidung für eine Familie hängt von mehr als rein wirtschaftlichen Faktoren ab, und neben der Erleichterung der ökonomischen Bürde versuchen Politiker wie Orbán, die Familie emotional positiv zu besetzen und im kulturellen Zeitgeist zu verankern. Auch die Wiederbetonung des Christentums in weiten Teilen Osteuropas sollte nicht nur durch eine vermeintlich islamophobe Linse gesehen werden. Der christliche Glaube ist ein weiterer Mosaikstein in dem Unterfangen, die Familie wieder salonfähig zu machen, und die Kinderlosigkeit eine kritische beäugte Ausnahme.

Es wird sich noch zeigen müssen, ob diese neue Politik die gewünschten Ergebnisse liefern kann. Zwar hat Russland die höchste Geburtenrate seit 1991, liegt aber mit 1,75 Kindern pro Frau immer noch weit hinter den erstrebten 2,1. Es gibt aber auch Zeichen eines kulturellen Wandels: In Ungarn beispielsweise wurden zwischen 2010 und 2016 um 46 Prozent mehr Ehen geschlossen, was einer kompletten Trendumkehr gegenüber den Jahren davor entspricht. Im selben Zeitraum hat auch die Anzahl der Abtreibungen um 25 Prozent abgenommen, was von manchen als Indikator einer neuen Familienfreundlichkeit gedeutet wird.

Neonationalismus und Geburtenpolitik

Wer die politische Stimmung in den Staaten des ehemaligen Ostblocks verstehen will, kann die demografische Frage nicht ausklammern. Die Verknüpfung von Neonationalismus und Geburtenpolitik sind zwei Seiten derselben Medaille, und beide verhindern eine auf Zuwanderung aufbauende Bevölkerungspolitik. Die Hoffnung besteht darin, dass stolze Ungarn oder stolze Polen den intrinsischen Wert der Familie wiederfinden, weshalb der Nationalismus zumindest in naher Zukunft ein integraler Faktor in Osteuropa bleiben wird.

Was derzeit in Polen, Ungarn und anderen Staaten Osteuropas stattfindet, ist ein Experiment, das man im Rest Europas genau beobachten sollte. Die demografische Krise wird sich nicht rein über Zuwanderung lösen lassen, weshalb auch in Westeuropa neue Rezepte gefragt sein werden.

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