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Die Revolution der Pausenclowns

Von Said D. Werner

Gastkommentare

Künstliche Intelligenz und Universitätsbildung im 21. Jahrhundert: Die vierte industrielle Revolution gehört nicht bloß den Tech-Affinen, sondern auch den Geisteswissenschaften.


Im April 2018 schätzte das IT-Research- und Consulting-Unternehmen Gartner den globalen Geschäftswert von Künstlicher Intelligenz (KI) auf gut 1,2 Billionen US-Dollar - ein Anstieg um gut 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Populär geworden ist der Boom der Technologie erst vor gut zweieinhalb Jahren, als das Weltwirtschaftsforum die "vierte industrielle Revolution" ausrief und in Science-Fiction-Manier davor warnte, die Automatisierung der Menschheit Herz und Seele stehlen zu lassen.

Was damals allenfalls die Trekkies unter uns aufhorchen ließ, schlägt sich zwischenzeitlich auch in Zahlen einer Studie von McKinsey nieder, der zufolge sich bereits im vergangenen Jahr die Hälfte aller globalen Arbeitsaktivitäten theoretisch automatisieren ließ. In Zukunft sollen durch KI gut 16 Billionen US-Dollar an Löhnen eingespart werden und die Einnahmen von derzeit 8 Milliarden auf mehr als 47 Milliarden US-Dollar anwachsen.

Millionen Lastwagenfahrer allein in den USA könnten innerhalb der nächsten zwei Jahre ihren Job an die Automatisierung verlieren, genauso wie unzählige Reinigungskräfte, Buchhalter, Steuerberater, Analysten und andere Erwerbstätige in überwiegend regelgebundenen Berufen. Bessere Chancen auf Klassenerhalt spricht die Studie kreativen Jobs zu, etwa Lehrern, Kunsttreibenden, Forschern oder auch Managern.

Durch KI getriggerte Trends der Arbeitswelt werden sich jedoch nicht nur auf die vorhandenen Berufsgruppen auswirken. Auch die Konstitution der Arbeitsträger ist betroffen: Enterprise-Resource-Planning-Systeme (zum Beispiel SAP’s Digital Boardroom) beschwören die Erschaffung virtueller Organisationen ohne Organisation, ausgepresste manageriale X-Theorien, wie man sie noch in den Millenniumslehrplänen der Betriebswirtschaftslehre findet, werden dynamischen Agilitätsmodellen weichen, bei denen die Gleichzeitigkeit einer funktionalen Bürokratie und der algorithmisierten Wundertüte technologischer Innovation ihre gemeinsame Wirkung entfaltet. Innerhalb der Tech-Branche ist der Untergang der abendländischen Corporate indes beschlossene Sache, und wieder einmal soll Niklas Luhmann recht behalten, der vor Jahrzehnten in visionärer Voraussicht schrieb, dass sich mit der Erfindung des Computers viel ändern werde.

Konkurrenz zweier konträrer Ausbildungsentwürfe

Wie viel sich geändert hat, zeigt der Blick auf Anforderungsportfolios des Humankapitals 4.0, früher bekannt als Bildung. Ausdifferenziert in die technologisch bewanderten Fächer der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (Mint) und die eher Soft Skills forcierenden Disziplinen der Geisteswissenschaften konkurrieren zwei konträre Ausbildungsentwürfe um die Gunst eines modernen Arbeitsmarktes.

Während gerade in Deutschland immer wieder Forderungen nach mehr technischen Angeboten im sekundären und tertiären Bildungswesen laut werden, scheint der Kampf der Disziplinen andernorts besiegelt. War die Studienbeliebtheit im Abschlussjahr der Weltwirtschaftskrise in technischen wie geisteswissenschaftlichen Fächergruppen in den USA noch nahezu ausgeglichen, verzeichnete die Zahl der Mint-Absolventen bis 2015/2016 ein Wachstum von 43 Prozent auf etwa 550.000 Berufseinsteiger. Die Jahrgänge der Geisteswissenschaften zählten rund 150.000 Köpfe weniger, wie eine Erhebung des Instituts Emsi aus dem vergangenen Jahr zeigt.

Schwierige Jobsituation für Geisteswissenschafter

Spätestens seit Don Draper wissen wir zwar, dass die quantitative Marktforschung nicht zwingend als Quelle aller Wahrheit angesehen werden muss, allerdings scheint sich auch das kulturelle Image der einst so irritationsfähigen Geisteswissenschaften zu verändern. An der kalifornischen Stanford University im Hotspot erfinderischer Heurekas werden Studierende der schrumpfenden Kohorten von Techie-Kommilitonen elegisch als "Fuzzies" bezeichnet, und es erweckt beinahe den Anschein, als verkäme das Bild der einst so umtriebigen Tausendsassas zu dem einer sich selbst irritierenden Gruppe an bestenfalls flauschigen Pausenclowns.

Ob der Spitzname so richtig angebracht ist, darf angezweifelt werden, ist es doch vornehmlich der Anspruch der freien Ausbildung des Geistes, das kritische Denkvermögen zu schulen, um neue Erkenntnisse und Wissen möglichst sinnstiftend in übergeordnete soziale, politische und ökonomische Kontexte zu implementieren. Wissenschafter wie Gary Morson und Morton Schapiro beispielsweise empfehlen Ökonomen, sich mit großen Literaten zu beschäftigten, um den Einfluss kultureller Motivatoren auf wirtschaftliche Ereignisse zu verstehen und diese nicht bloß als rationalisierungsbedürftige externe Effekte abzutun. In vielen Bereichen der Gesellschaft lösen solch interdisziplinäre Ansätze komplexe Probleme zuverlässig, nichtsdestotrotz sehen wir uns mit einer zunehmenden Fokussierung auf die Mint-Bildung konfrontiert. Glaubt man einschlägigen Gehaltsstatistiken, ist die Situation für geisteswissenschaftliche Berufseinsteiger auch hier alles andere als flauschig.

Vor dem Hintergrund fortschreitender Technologisierung - insbesondere in Bezug auf die Entwicklung von KI - stellt sich mehr als je zuvor die Frage, worauf es in der Ausbildung künftiger Generationen wirklich ankommen wird, wenn es um eine erfolgreiche Bewältigung - also nutzenstiftende Einbettung - der neuen Technologien in aktuellen und kommenden sozialen Systemen geht.

Setzt man im Diskurs der Ausbildungsentwürfe im Sinne der Vergleichbarkeit zwei Grundannahmen voraus - (a) Bildung ist an den Erwerb eines Grundrepertoires an Wissen und (b) an das Erlangen der Fähigkeit zum Umgang mit diesem gekoppelt -, so wird die von Ray Kurzweil prophezeite ständige Verfügbarkeit des gesamten menschlichen Wissens in Zukunft einen exorbitanten Einfluss auf den Umgang mit Wissen, seiner Normativität und Anwendung ausüben. Möglich gemacht hat das ein ausgedehnter Frühling in der Entwicklung von KI seit Mitte der 1980er Jahre, der Computer hervorbringt, die mit ihren rückkopplungsfähigen, neuronalen Netzen dem Vorbild des menschlichen Gehirns huldigen.

Die Anwendung von Wissenals Schlüsselqualifikation

Bei allem technologischen Zukunftsoptimismus wäre es gerade deswegen zu einfach, die ökonomische Gesamtrechnung ohne die Geisteswissenschaften zu machen, hielt doch bereits John Lasseter, Produzent des liebenswerten KI-Roboters "WALL·E" und seinerzeit ein Kollege von Steve Jobs bei Pixar, fest: "Die Technologie inspiriert die Kunst, und die Kunst fordert die Technologie heraus." Um zu begreifen, welcher Nutzen sich hinter der weit verdrahteten Fassade von KI noch verbirgt, müssen wir in der Ausbildung künftiger Generationen die intensive Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Wissen selbst erwägen.

Dazu könnte es hilfreich sein, sich einer neuen Strategie in der Tradition eines Bildungshumanismus zu besinnen, der die leidenschaftliche Liebe zum Erforschen der unendlichen Weiten des Wissens - kurz zum Lernen - wiederbelebt. Design Thinking und andere ganzheitliche Ansätze könnten ein erster Ölzweig zur Versöhnung der Disziplinen sein, bei der die Geisteswissenschafter Daten hinterfragen, Algorithmen ein kontextuelles Verständnis hinzufügen und komplexe Konzepte ethischer Subroutinen entwickeln. In "The Fuzzy and the Techie" untermauert Autor Scott Hartley diese These mit den industriellen Erfolgsgeschichten ausgewählter Flauschiger wie YouTube-CEO Susan Wojcicki (Literaturgeschichte), PayPal-Mitgründer Peter Thiel (Philosophie und Jura) oder Hewlett Packards ehemaliger CEO Carly Fiorina (Mittelalterliche Geschichte).

Funktional würde dieses Bildungswesen dann nicht im blinden Konformismus den Trends aufblühender Industrien hinterherhechten, sondern die Anwendungsfähigkeit von Wissen als Schlüsselqualifikation sich stetig wandelnder Sozialsysteme ansprechen. Wissen wäre somit kein reines Hauptprodukt intellektueller Monokulturen, wie es der Stanford-Professor Adrian Daub ausdrückt, sondern würde sich im kreativen Umgang als aktiviertes Medium demonstrieren.

In den Kulturwissenschaften verknüpft man mit diesem Gedanken seit einigen Jahren den Begriff der Wissensfähigkeit. Was ein bisschen wie eine alles auf null setzende Weltformel anmutet, beschreibt eigentlich nur jene generalistischen, zugleich hoch spezialisierungsfähigen Soft Skills eines zutiefst geisteswissenschaftlichen Anforderungsportfolios, auf das progressive Liberal-Arts-Universitäten mit Herz und Seele Anspruch erheben. Die vierte industrielle Revolution gehört deshalb nicht bloß den Tech-Affinen, sie gehört auch den Geisteswissenschaften. Vielleicht wird sie sogar zur Revolution der Pausenclowns.

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