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Resistent gegenüber Todesmeldungen

Von Johanna Rachinger

Gastkommentare

Die Zukunft des Buches in Zeiten der Digitalisierung.


Etwa 500 Jahre lang - seit Johannes Gutenbergs bahnbrechender Erfindung - dominierte das gedruckte Buch als Medium nahezu uneingeschränkt unsere Wissenskultur und Wissenstradierung. Es veränderte nicht nur unseren Umgang mit Information nachhaltig, ermöglichte eine schrittweise Demokratisierung von Wissen und eine Verbreitung von Bildung auf weite Teil der Bevölkerung, sondern - folgt man Medienphilosophen wie etwa Vilém Flusser - bewirkte auch eine tiefgreifende Veränderung unserer gesamten Wahrnehmung der Wirklichkeit, unseres Daseins in der Welt.

Bücher ermöglichen uns eine intime geistige Beziehung mit fernen oder schon lange verstorbenen Denkern. Wer heute Platon liest, wird zum stillen Zuhörer seiner Dialoge. Wer Kants Kritik der reinen Vernunft liest, unterhält sich imaginär mit einem der größten deutschen Philosophen. Für diesen uferlosen Eklektizismus zahlen wir aber auch unseren Preis. Die Menge an tradierten Texten nimmt ständig zu und wird zu einer unüberschaubaren Last, der Mensch zur wandelnden transhistorischen Enzyklopädie. Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan meinte, dass der Buchdruck uns in eine Art Trance versetze: "Die Printmedien überziehen das Bewusstsein mit einem Tintennebel. So versinkt die Neuzeit in einen typographischen Schlaf - und seither heißt lesen schlafen, schlafen vielleicht auch träumen."

Bücher gibt es schon langeund wird es noch lange geben

Bereits in den 1960er Jahren stellte McLuhan die These vom Ende der dominierenden Rolle der Druckschriften, der "Gutenberg-Galaxie" auf. Insbesondere aber seit dem rasanten Siegeszug der digitalen Medien seit der Jahrtausendwende wird gerne - und oft mit Wehmut - vom Ende des Buchzeitalters gesprochen. Alle radikalen Prognosen haben sich indes bis jetzt nicht bewahrheitet, das Buch beweist im Gegenteil eine erstaunliche Resistenz gegenüber allen "Todesmeldungen".

Notwendig ist zunächst eine semantische Klärung: Was meinen wir mit dem Ausdruck "Buch"? Das gedruckte Werk, an das wir heute sofort denken, ist ja nur eine Variante eines sehr viel breiteren Spektrums. Zu erinnern ist zunächst, dass es selbstverständlich Bücher lange vor Gutenbergs Erfindung gab und auch bereits einen Buchhandel beziehungsweise Büchermarkt. In Athen etwa zur Zeit von Sokrates, im 5. Jahrhundert vor Christus, wurden philosophische und literarische Texte öffentlich zum Kauf angeboten.

Sir Karl Popper hat 1984 auf Europas ersten Buchmarkt im antiken Athen und auf seine historische Bedeutung aufmerksam gemacht: "Meiner Hypothese nach (...) begann die eigentliche europäische Kultur mit der ersten Veröffentlichung, in Buchform, der Werke Homers (...) Homers Epen wurden um das Jahr 550 vor Christi Geburt gesammelt, niedergeschrieben und zum ersten Mal in Buchform veröffentlicht, und zwar von Staats wegen. Das geschah in Athen aufgrund der Initiative des Herrschers von Athen, des Tyrannen Peisistratos. (...) Die kulturellen Folgen waren unabschätzbar und sind es noch immer. In Athen entstand der erste Büchermarkt Europas. Jedermann in Athen las Homer. (...) Hesiod, Pindar, Aischylos und andere Dichter folgten. Athen lernte lesen und schreiben. Und Athen wurde demokratisch."

Erstes mit beweglichen Lettern gedrucktes Buch 1377 in Korea

Natürlich existierten Bibliotheken schon in der Antike, wie die legendäre Universalbibliothek von Alexandria mit ihren wahrscheinlich mehr als 700.000 Papyrusrollen, den Vorgängern unseres heutigen Buches. Weniger bekannt hingegen ist, dass es bereits einen Buchdruck mit beweglichen Metalllettern lange vor Gutenberg gab, nämlich in Korea, wo mit dem "Jikji", einer Sammlung buddhistischer Texte in chinesischer Sprache aus dem Jahr 1377, das erste mit beweglichen Lettern gedruckte Buch nachweisbar ist. Das Dokument befindet sich heute im Besitz der Bibliothèque nationale de France in Paris und wurde 2001 ins Unesco-Welterbe aufgenommen; sogar ein eigener Preis der Unesco wurde danach benannt ("Jikji Memory of the World Prize"), dennoch sucht man in europäischen Geschichtsbüchern oft vergeblich nach Hinweisen darauf.

Das Buch hat also eine lange Geschichte, und sie scheint noch lange nicht an ihr Ende gekommen zu sein. Selbstverständlich sind auch E-Books Bücher, und die von Google millionenfach digitalisierten Druckschriften aus den großen Bibliotheken bleiben Bücher, auch wenn sie heute via Internet am eigenen PC wesentlich einfacher zugänglich sind.

Computer und Internet als neue Leitmedien unserer Kultur

Stellt man die Frage pointierter, wie die Zukunft des gedruckten Buches aussehen wird, so werden wir anerkennen müssen, dass seine Blütezeit vorüber ist. Laut Medientheoretikern wie Norbert Bolz hat das Medium des (gedruckten) Buchs seine Rolle als Leitmedium unserer Kultur längst schon an Computer und Internet abgetreten. Um das Überleben des Buches, so Bolz, brauche man sich deswegen noch lange keine Sorgen zu machen: "Nicht das Medium Buch an sich ist am Ende, sondern das Buch als Leitmedium der Gegenwart ist am Ende. Diese Stelle nimmt der Computer ein. Aber das Buch gewinnt eine neue, sehr edle und achtenswerte Funktion - nämlich die der humanen Kompensation. (...) Es bietet den Trost der Überschaubarkeit."

Die neue, wichtige Rolle des Buchs liegt Bolz zufolge also darin, dass es uns mit seinem einfachen linearen Aufbau eine Vertrautheit und Überschaubarkeit bietet, die uns die Neuen Medien allemal schuldig bleiben. Günther Anders sprach bereits 1956 von der "Antiquiertheit" des Menschen, von seiner "Prometheischen Scham" angesichts der immer perfekter und komplizierter werdenden, von ihm geschaffenen Technik, der er sich nicht mehr gewachsen fühlt.

Viele werden diesem Gedankengang aus tiefer Überzeugung zustimmen und dabei an den Krimi am Nachttisch denken, den wir gedruckt immer noch dem E-Book vorziehen, oder an wunderbare Bildbände - Ausstellungskataloge etwa -, die wir immer noch lieber durchblättern, als uns die Bilder am Bildschirm anzusehen, um von den hochkomplexen Problemen einer langfristigen Sicherung von digitalen Inhalten und Daten erst gar nicht zu sprechen. Doch gilt dies vielleicht nur noch bedingt für die Generation der "digital natives", die mit den Neuen Medien vertraut aufwachsen.

Neues ersetzt Altesniemals vollständig

Das unaufhaltsame Vordringen der digitalen Medien in nahezu alle Lebensbereiche ist heute Realität. Bei Medien, die einer periodischen und raschen Aktualisierung bedürfen, wie etwa Bibliographien, Lexika, Jahresberichten, Projektberichten und Ähnlichem sowie speziell auch im Bereich der Periodika haben die Printmedien ihre Bedeutung bereits weitgehend an die digitalen Medien verloren.

Was wir beobachten, ist aber vielmehr ein friedliches Nebeneinander als eine totale Ablöse des Buches durch die digitalen Medien. Rüdiger Wischenbart hat dies in seiner Rede am Österreichischen Bibliothekartag in Graz 2009 sehr klar formuliert: "Jede Medienrevolution führt die Neuen als die Vernichter des Alten vor, so als gelte es, das eine durch das andre zu ersetzen, während doch genau dieses niemals stattfindet: Die jeweils neuen Medien ersetzen nicht die alten, sondern eröffnen neue Räume."

Das gedruckte Buch wird so bald nicht aus unserer Welt verschwinden, ebenso wenig wie die Malerei nach der Erfindung der Fotografie verschwand und das Theater nicht nach der Erfindung des Filmes. Und es gibt auch heute noch Menschen, die gerne Rad fahren oder reiten, obwohl es seit langem schon Autos gibt - und sogar solche, die immer noch mit der Hand schreiben, obwohl es seit einigen Jahrzehnten schon PCs gibt. Es ist dies nicht Zeichen einer nostalgischen Romantik, sondern einfach Ausdruck der Tatsache, dass das Alte niemals vollständig durch das Neue ersetzt wird. Und dies gilt sicher auch für das gedruckte Buch. Ich bin überzeugt davon, dass wir seine Vorzüge noch lange genießen werden.

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