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"Bruderschaft hat keine Grenze"

Von Rene Tebel

Gastkommentare

Die Rolle des starken Nachbarn Türkei im zerrütteten Bürgerkriegsland Syrien.


Der Krieg in Syrien stand im sechsten Jahr, als Raketenangriffe auf Kilis und der Selbstmordanschlag des IS auf eine kurdische Hochzeitsfeier in Gaziantep mit 54 Toten der Türkei einen Grund lieferten, am 24. August 2016 im Rahmen der "Operation Euphratschild" in den Norden des kriegsgeschüttelten Nachbarlandes einzumarschieren. Bis Ende März 2017 konnten die türkischen Einheiten und ihre (großteils dschihadistischen) Verbündeten der Freien Syrischen Armee (FSA) ein Gebiet mit mehrheitlich arabischer Bevölkerung erobern.

Damit verhinderte die Türkei eine Präsenz des IS in Grenznähe, schuf eine Pufferzone gegen einsickernde Terroristen und unterband ein zusammenhängendes kurdisches Einflussgebiet, das insbesondere nach der Einnahme Manbijs durch kurdische Einheiten am 13. August 2016 konkret wurde. Zudem gewann die Türkei ein Territorium zur Ansiedlung von Flüchtlingen, die aus unterschiedlichen Teilen Syriens eingewandert waren, und verschaffte ihren verbündeten Islamisten-Milizen ein Rückzugsgebiet.

Die Türkei als Garant von Sicherheit und Wiederaufbau

Die Ankündigung der USA, mit der YPG (einer mit der kurdischen PKK mutmaßlich verbundenen und von der Türkei als Terrororganisation eingestuften Miliz) eine Grenztruppe zu begründen, provozierte den Einmarsch türkischer Truppen und der FSA knapp zehn Monate nach dem Abschluss der "Operation Euphratschild" ins syrisch-kurdische Afrin im Rahmen der "Operation Olivenzweig". Während aus Afrin unvermindert von türkischer Willkürherrschaft, Lösegelderpressung, Schikanen gegen Kurden, Flucht und Vertreibung berichtet wird, konnte die Türkei ihre etwas mehr als zweijährige Präsenz in der Gegend von Jarabulus, Azaz und al-Bab bereits nutzen, um die dortige Sicherheitslage zu erhöhen und das Leben der Menschen wieder zu normalisieren.

Unter türkischer Ägide und mittels Finanzierung aus Ankara konnten in den vergangenen zwei Jahre beschädigte Häuser repariert, Spitäler renoviert oder neu gebaut und die Infrastruktur wieder hergestellt oder gar neu geschaffen werden. Als Prestigeprojekte fungieren Krankenhäuser, der Bau einer Verbindung von al-Bab ins türkische Elbeyli oder ein neues Wärmekraftwerk durch eine türkische Firma nahe Azaz. Außerdem bezahlt die Türkei die Gehälter hunderter Lehrer, Ärzte und Polizisten, lässt Moscheen renovieren und eröffnete auch mindestens fünf Filialen der türkischen Post. Erst jüngst berichtete die Anadolu Agency, das türkische Bildungsministerium habe 3,6 Millionen Schulbücher nach Nordsyrien geschickt.

Daher erscheint es auch durchaus glaubwürdig, wenn die "Financial Times" nach einer von türkischen Beamten organisierten Reise nach Jarabulus berichtet, zahlreiche Bewohner sähen nach Bashar al-Assads Regierung und der IS-Herrschaft in der Türkei keine Besatzungsmacht, sondern vielmehr einen Garant für Stabilität und Wiederaufbau - ein Stimmungsbild, das "Syria direct" bestätigt. Allerdings ist dieser enorme humanitäre Einsatz und finanzielle Aufwand Ankaras vermutlich nur der Avers einer Medaille, deren Revers knallharte Expansionspolitik bedeuten könnte. Insbesondere im Gebiet der "Operation Euphratschild" mehren sich die Indizien, dass sich das türkische Engagement längst nicht mehr auf humanitäre Angelegenheiten und den Sicherheitssektor beschränkt, sondern ebenso die zivile Verwaltung wie auch das Alltagsleben bestimmt.

Zwischen humanitärem Einsatz und Expansionspolitik

Dass die Verwaltung des Gebiets der Autorität von Gouverneuren benachbarter türkischer Provinzen untersteht, lässt sich noch mit dem Ziel der Türkei erklären, den Wiederaufbau effizient zu steuern. Doch mehren sich beunruhigende Anzeichen, dass sie das Gebiet weit eher als eigene "Kolonie" betrachtet und immer weniger an eine Rückgabe an Syrien denkt. Diese Zweifel bestärkt der neue Polizeiapparat, der sich zahlreich aus einstigen FSA-Kämpfern rekrutiert, einer Dschihadisten-Miliz, die noch im Sommer im Süden Syriens gegen Assad kämpfte und für ihn als Terrorgruppe gilt. Außerdem ersetzen die Behörden in Azaz und al-Bab die syrischen Personalausweise durch ID-Karten, die für sämtliche bürokratische Angelegenheiten verwendet werden müssen. Und in den fünf Filialen der türkischen Post im Operationsgebiet werden die Gehälter der türkischen und syrischen Angestellte nur in türkischen Lira ausgezahlt.

Weitere Indizien für eine längerfristige Einflussnahme Ankaras sind die Allgegenwart türkischer Symbole und der Gebrauch der türkischen Sprache. Schon im Juli berichtete "Gulf News" aus Dubai von Erdogan-Porträts in öffentlichen Schulen, in denen Türkisch die zweite Fremdsprache ersetzt habe, von zahlreichen türkischen Flaggen in den Städten und von zweisprachigen Beschriftungen an Gebäuden. Erst im September wurde in a-Rai ein neues Gerichtsgebäude eingeweiht, auf dessen Funktion ein großes rotes Schild mit türkischer und arabischer Beschriftung hinweist.

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu bemerkte überdies jüngst, mehr als 260.000 Flüchtlinge seien in die Gebiete der "Operation Euphratschild" und der "Operation Olivenzweig" zurückgekehrt. Unerwähnt blieb, dass es sich dabei vorrangig um (arabische) Syrer aus allen Teilen Syriens handelt und weniger um die Rückkehr von Flüchtlingen in ihre eigentliche Heimat. Unter diesen neu angesiedelten Menschen sind auch Dschihadisten der FSA und der Jaish al-Islam in größerer Zahl, die der Türkei als Schattenarmee dienen.

Marionettenregierung oder gar Annexion?

Welche Ziele Ankara tatsächlich verfolgt, ist unter Experten noch umstritten: Ein Konsens besteht aber darin, dass sich Recep Tayyip Erdogan kaum aus Nordsyrien zurückziehen dürfte, um Assad die Gebiete zu überlassen. Awet Yayla, Assistenzprofessor an der DeSales University, vertritt etwa in "al-Monitor" die These, die Türkei werde das Gebiet zwar nicht annektieren, aber de facto weiterhin darüber entscheiden.

Als weiteres Modell erscheint jenes Nordzyperns - also das Installieren einer Marionettenregierung und im Extremfall eine Annexion - plausibel. Als Beispiel hierfür fungiert die Eingliederung der teilautonomen syrischen Region Iskenderum in das türkische Staatsgebiet als Provinz Hatay im Jahr 1939.

Welche Variante Realität wird, entscheidet allerdings nicht zuletzt der Spielraum, den Russlands Präsident Wladimir Putin und US-Präsident Donald Trump der Türkei im Ringen um die Vorherrschaft in Syrien lassen.