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Man wird Angela Merkel noch vermissen

Von Barbara Zehnpfennig

Gastkommentare

Die deutsche Kanzlerin hat einen neuen Politikstil geprägt.


Nach der Verkündung ihres Entschlusses, nicht mehr für den Parteivorsitz der CDU zu kandidieren, wird von Angela Merkel oft schon in der Vergangenheitsform gesprochen. Auch wird darüber spekuliert, ob sie ihr Amt als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland noch bis zum Ende der Legislaturperiode ausüben oder es bereits zuvor an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin übergeben wird.

Doch für politische Nachrufe ist es viel zu früh. Eine nach wie vor tatkräftige und gestaltungswillige Kanzlerin übt ihr Amt aus, ohne auf vorschnelle Abgesänge zu achten oder Rücksicht zu nehmen. Das ist Teil ihres Stils: Sie lässt sich nicht beirren, wenn sie sich ein Ziel gesetzt hat, das sie für sich selbst als richtig und wichtig erkannt hat.

Die gesellschaftliche Wende bei der Willkommenskultur

Genau das wurde ihr aber oft zum Vorwurf gemacht - dass sie unbeirrbar den einmal eingeschlagenen Weg verfolgt, selbst wenn sich daraus heftige gesellschaftliche Verwerfungen ergeben. Am deutlichsten wurde das natürlich in der Migrationsfrage. Als Merkel 2015 beschloss, den Bitten Ungarns und Österreichs entsprechend die deutschen Grenzen offen zu halten und viele hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen, war das ein ziemlich einsamer Entschluss, dessen Richtigkeit sie bis heute verteidigt. Sie sah sich, und das erscheint durchaus glaubwürdig, aus humanitären Gründen genötigt, das Schengener Abkommen zeitweilig auszusetzen. Denn dieses hätte es erfordert, die Flüchtlinge dorthin zurückzuschicken, wo sie erstmals den Schengen-Raum betreten hatten. Doch Ungarn, Italien und Griechenland die ganze Last alleine tragen zu lassen, erschien der Kanzlerin offenbar nicht zumutbar.

Die Willkommenseuphorie, die Deutschland den Flüchtlingen anfangs entgegenbrachte, schien der Kanzlerin recht zu geben. Erst als sich die mit der Einwanderung verbundenen Probleme zeigten, schlug die Stimmung um. Viele, die Merkel jetzt so heftig kritisieren, sollten sich vielleicht daran erinnern, dass sie die Sachlage auch einmal anders eingeschätzt haben.

Problematische, aber begründete Kursänderungen

Noch andere sehr plötzlich und sehr resolut gefällte Entscheidungen der Kanzlerin stehen heute im Fokus der Kritik. Dazu gehören die Abschaffung der Wehrpflicht, der Atomausstieg und der Euro-Rettungskurs. All das waren zweifellos problematische Kursänderungen. Es war ein großer Vorzug der Bundeswehr, eine Bürgerarmee zu sein, sich also immer aus der Bevölkerung heraus zu erneuern und so nicht Gefahr zu laufen, ein Staat im Staat zu werden. Die Atomenergie war eine relativ preiswerte Energieform und erhöhte Deutschlands Unabhängigkeit von Importen. Das bisherige Prinzip der EU, Schulden nicht zu vergemeinschaften, konnte als - wenn auch nicht sehr gut funktionierender - Mechanismus betrachtet werden, um die Mitgliedstaaten zu Haushaltsdisziplin anzuhalten.

Dies ist die Kehrseite der getroffenen Entscheidungen. Allerdings darf man, wenn man Merkels Leistungen gerecht beurteilen will, nicht vergessen, dass es Gründe für den Kurswechsel gab: Die Wehrgerechtigkeit war schon lange nicht mehr gegeben; die Atomenergie belastet nachfolgende Generationen überproportional; die Bewahrung der Eurozone trägt zur Stabilisierung Europas bei. Man hätte auch anders entscheiden können. Man kann aber davon ausgehen, dass diesen Entscheidungen eine sorgfältige Güterabwägung vorausging.

Dass die Kanzlerin so etwas nicht an die große Glocke hängt, dass sie ihre Arbeit ohne Pathos und Selbstdarstellung tut, ist Schwäche und Stärke in einem. Eine Schwäche ist es insofern, als sie damit zu wenig nach außen dringen lässt, welchen Gründen ihre Politik folgt. Eine Stärke ist es, weil sie damit beweist, dass man auch ohne Alphatiergehabe, Getöse und Effekthascherei Politik machen kann. Ihr Selbstverständnis ist es, zu dienen. Das kann man auch leise tun.

Politische Nüchternheit, Sachlichkeit und Uneitelkeit

Der frühere Parlamentspräsident Norbert Lammert, der durchaus manchen Strauß mit ihr ausgefochten hatte, erklärte kürzlich öffentlich: "Ich bewundere Angela Merkel für ihre unprätenziöse Ernsthaftigkeit." Das ist eine treffende Charakterisierung. Merkel hat eine solche Nüchternheit, Sachlichkeit und Uneitelkeit in die Politik gebracht, wie sie Männern kaum eigen ist.

Zwar wird Eitelkeit häufiger Frauen zugeschrieben als Männern, doch das trifft einfach nicht zu. Männliche Eitelkeit geht in der Regel viel tiefer als weibliche, die sich primär auf die äußere Erscheinung bezieht. Die Eitelkeit von Männern betrifft dagegen oft ihr ganzes Sein, die Anerkennung ihres Platzes in der Rangordnung, die Bewunderung für ihre Durchsetzungsstärke und Einzigartigkeit. Das ist die gefährlichere Variante der Eitelkeit. Denn sie kann zu einer Verkehrung von Mittel und Zweck führen: Nicht die Sache steht im Mittelpunkt, sondern das Ich, das sich der Sache bedient. Eitelkeit in der Politik kann sich verheerend auf das Gemeinwohl auswirken. Das sieht man an Alphatieren wie Silvio Berlusconi, Wladimir Putin oder Donald Trump.

Zu Merkels uneitlem Politikstil gehört auch die Hochschätzung des Kompromisses. Man kann ihr vorwerfen, sie habe keine großen Visionen. Man unterschätzt dabei aber vielleicht die große Leistung, widerstrebende Kräfte durch Anwendung der Kunst des Möglichen aneinander zu binden. Das Wünschbare ist das eine, das Machbare das andere, und wenn man über dem Wünschenswerten das Machbare versäumt, kann das großen Schaden bewirken.

Förderung von Frauen als wichtiges Anliegen

Wie oft hat Merkel mittels Beharrlichkeit, Freundlichkeit und Kompromissbereitschaft dazu beigetragen, dass die EU nicht durch nationale Egoismen auseinandergerissen wird? Wie oft hat sie in weltpolitischen Zusammenhängen vermittelt und durch ihre Politik der kleinen Schritte vielleicht mehr erreicht als durch machohaftes Auftreten? Deutschland ist in den Jahren ihrer Kanzlerschaft eine neue Rolle in der Welt zugewachsen. Die Zeiten, in denen sich das Land als ökonomischer Riese und politischer Zwerg gefiel, sind unwiederbringlich dahin. Denn viele Staaten erwarten, dass die Bundesrepublik ihrer Bedeutung gemäß Verantwortung in Europa und der Welt übernimmt. Diese Verantwortung unprätenziös, ohne Auftrumpfen und erneutes Großmachtgehabe wahrzunehmen, ist ganz offensichtlich eines der Ziele von Merkels Politik.

Ein weiteres Ziel hat sie ebenso unauffällig, aber unbeirrt verfolgt, wie sie Politik generell betreibt: die Frauenförderung. Weibliche politische Talente hat sie bewusst gefördert und Frauen ermutigt, sich mehr zuzutrauen - auch den Umgang mit Macht. Dass sie selbst Letzteren nicht scheut, ist ihr ebenfalls oft übelgenommen worden, zum Beispiel als sie ihre innerparteilichen Konkurrenten ausschaltete. Doch hätte sie sie gewähren lassen sollen? Jedem Mann wäre das als Dummheit ausgelegt worden.

Merkel hat mit ihrer Mischung aus Pflichtbewusstsein, Nüchternheit und Machtinstinkt einen neuen Politikstil geprägt. Bei allen Fehlern, die man ihr anlasten mag - man wird sie noch vermissen.