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Gute Noten - aber nichts gelernt

Von Ernst Smole

Gastkommentare

Die Schule muss umdenken: Zeugnisse allein sagen nicht viel über Fähigkeiten von Schülern aus.


Beide Elternteile sind bildungsinteressiert. Es ist ihre Überzeugung, dass Bildung eine unverzichtbare Grundlage für ein gelingendes Leben darstellt. Sie wissen, dass eine erfüllende Erwerbsarbeit und eine sinn- und lustvoll verbrachte Freizeit der Gesundheit und der Lebenserwartung zuträglich sind. Daher halten sie auch regelmäßigen Kontakt zu den Lehrern ihres Sohnes. "Ihr Kind ist kein Spitzenschüler, aber es gibt keine Probleme", hören sie. Dann die Schulentscheidung mit neuneinhalb Jahren: "Das Gymnasium wäre nicht ausgeschlossen. Doch für ihren Sohn ist die Neue Mittelschule vermutlich optimaler, denn Handwerksberufe haben gute Chancen am Arbeitsmarkt." Also Neue Mittelschule, regelmäßiger Kontakt der Eltern mit den Lehrpersonen. Und wieder heißt es: "Kein Spitzenschüler, aber kein Anlass zur Sorge." Dann Polytechnischer Lehrgang zwecks Berufsorientierung. Es folgt das - rundum positive - Abschlusszeugnis der Pflichtschule.

Der junge Mann hat mittlerweile konkrete Berufswünsche: Kfz-Mechaniker oder Mechatroniker - immerhin ist er bereits seit der Volksschule eng mit dem Smartphone vertraut und durfte schon mehrfach das Auto seines Onkels lenken. Also Lehrstellensuche: Die Lehrherren werfen nur einen kurzen Blick aufs Pflichtschulzeugnis und unterziehen die jungen Leute einem Test: Lesen, Schreiben, Rechnen, Allgemeinwissen.

Die ersten zehn Firmen entscheiden sich für andere Bewerber. Leider gibt es auch eine Absage von der Wunschfirma. Der Firmenchef erklärt: "Warum unsere Absage? Lieber Bub, du kannst rein gar nichts! Du bist beim Berechnen der Fläche eines einfachen Rechtecks gescheitert, du hast den Text der Rechenaufgabe nicht verstanden, dein Diktat strotzt vor Rechtschreibfehlern, und du hast mehrere der vorgelegten Farben nicht richtig benannt! Ihr Sohn ist von nicht optimalen Lehrpersonen unterrichtet worden - und Sie als Eltern hätten sich zeitgerecht um den Lernfortschritt ihres Sohnes kümmern müssen! Wer sich in der Pflichtschule nicht die Grundkompetenzen angeeignet hat, hat schlichtweg nicht gelernt, zu arbeiten."

Dieses traurige Ereignis gibt es Jahr für Jahr vieltausendfach. Die überwiegende Mehrheit der nicht arbeits- und ausbildungsfähigen jungen Menschen blickt auf einen ähnlichen Schulverlauf zurück - zwar ein positives Pflichtschulzeugnis, doch dieses ist durch "Notendumping" geschönt und daher wertlos.

Es geht auch anders - mit starken Lehrern

Starke Lehrer haben keine Angst davor, Eltern klar, deutlich und menschenverträglich wichtige, aber wenig angenehme Fakten zu vermitteln. Zum Thema Leistungsbeurteilung und Elternkontakt hört man dann etwa: "Warum eigentlich Noten? Ich bin mit den Eltern aller meiner Schüler - besonders mit jenen von eher schwierigeren Kindern - stets im direkten Kontakt. Ich mache die Eltern zeitgerecht behutsam, aber deutlich darauf aufmerksam, wenn für das Ziel AHS mehr Lernanstrengung nötig ist. So wissen Eltern und Kinder laufend, wie es um den Lernfortschritt steht. Auf diesem Weg verhindern wir gemeinsam negative Überraschungen." Sie haben sich auf welchem Weg auch immer das notwendige Kommunikationskönnen angeeignet - eine menschenzugewandte und selbstkritische Grundhaltung vorausgesetzt. Ihr Tun muss das künftige Schulsystem und damit die Schulwirklichkeit kommender Schülergenerationen bestimmen.

Es gibt keine zweite Gruppe, die so umfassend wie Lehrpersonen ihr berufliches Tun erklären, legitimieren und verteidigen muss - gegenüber besorgten, oft "bildungspanischen" Eltern, misstrauischen, eifersüchtigen Kollegen, einer kontrollversessenen Schulobrigkeit, der von Fachkräftemangel geplagten Wirtschaft und der schulkritischen medialen Öffentlichkeit. Und jede dieser unterschiedlichen Gruppen ist wiederum in sich heterogen. Da ist der türkische Vater, der die Schule beschuldigt, seinen Sohn zu überfordern, aber sein ebenfalls türkischer Arbeitskollege nervt die Lehrer seiner Tochter, weil sein Neffe in Ostanatolien seiner Einschätzung nach schon wesentlich mehr gelernt hat als sein Kind in der hiesigen Volksschule.

Rechtfertigungszwang und Verlust des Urvertrauens

Woher rühren all diese Probleme, woher kommt dieser beherrschende Rechtfertigungszwang, der auf der Schule lastet? Weite Teile der Öffentlichkeit haben das Urvertrauen in die Schule verloren - auch durch Erfahrungen wie die eingangs geschilderte eines willigen Schülers, der sich aufgrund von Defiziten der Schule schuldlos seiner Ausbildungs-, Berufs- und Lebenschancen beraubt sieht. Eine grassierende Fake-Unkultur wirkt hier als Brandbeschleuniger: Das Wissen, dass heute gut ein Drittel aller in seriösen(!) Wissenschaftsmagazinen publizierten Forschungsergebnisse wegen Mängeln zurückgezogen wird, befeuert den Vertrauensverlust gegenüber öffentlichen Bildungseinrichtungen.

Wie kann dieses Vertrauen zumindest im Schulbereich zurückgewonnen werden? Die Digitalisierung kann dazu keinen Beitrag leisten - der missbräuchliche Umgang mit ihr hat diesen gravierenden Vertrauensverlust nämlich wesentlich mitverursacht.

Nicht Algorithmen oder ausgeklügelte digitale Strategien sind nun gefragt, sondern die Aktivierung des Potenzials von Vertrauensvermittlung, das jeder Mensch in sich trägt - also die Fähigkeit, aufgrund eines stets aktuell gehaltenen Wissensstandes eigene Überzeugungen zu entwickeln und diese erfolgreich, weil menschenverträglich zu kommunizieren. Nicht umsonst gilt: "Der beste Banker ist jener, der dem Kunden den erwünschten Kredit verweigern muss - und dennoch erreicht, dass der Kunde zufrieden die Bank verlässt, weil er den Kreditreferenten als empathische, positive Persönlichkeit erlebt hat." Auf einem unpersönlichen, digitalen Weg ist eine Vertrauen schaffende Kommunikation schlichtweg nicht möglich.

Pädagogen als umfassende Kommunikationsweltmeister

Und die künftigen Lösungen? Ja, die Lehrpersonen der Schule von heute und von jener der Zukunft Müssen umfassende Kommunikationsweltmeister sein, denn Schule betrifft sämtliche Gesellschaftsschichten, die unterschiedliche, aber legitime Zielerwartungen gegenüber der Schule hegen - kritische Bürger, vermögende, die Wirtschaft ankurbelnde Konsumenten, die Abwesenheit von Armut und gewalttätigen Konflikten, risikofreudige Unternehmer, Verhinderung von Unterqualifizierung, sensible und durchsetzungsfähige Führungskräfte, wache Demokraten, vielseitige und flexible Fachkräfte, global denkende und verantwortlich und orientiert handelnde Politiker, Menschen, die aufgrund ihrer ausgeprägten Abstraktionsfähigkeit - Lesen, Schreiben und Rechnen sind die wichtigste Schulung für dieses Können - realistisch Zukunft zu denken, zu planen und zu verwirklichen imstande sind.

Wie lassen sich diese Ziele erreichen? Eine künftige erfolgreiche Pädagogenbildung muss sich konsequent zwei Fragen stellen: Wessen bedarf das Tun der Lehrer vor der Klasse? Und welche pädagogischen Werkzeuge garantieren optimale Wirksamkeit? Was der Gegenstand von Schule sein soll, wozu sie junge Menschen bilden und ausbilden soll und worauf die Schule vorzubereiten hat, ergibt sich aus Summe der legitimen gesamtgesellschaftlichen Zielerwartungen. Unverzichtbar für das Gelingen künftigen Unterrichts aber ist der Status der Lehrpersonen als Kommunikationsweltmeister. Dieses Ziel ist auch realistisch. Dies beweisen schon jetzt tausende Lehrpersonen, die ihre Profession auch trotz der heute oft so schwierigen Umstände als Traumberuf bezeichnen und mit Unbehagen, oft sogar mit Trauer ihrer Pensionierung entgegensehen.

Dass die Schule die genannten Ziele erreicht hat, wird sich dann zeigen, wenn der heute tausendfach anzutreffende, Menschen um ihre positiven Perspektiven betrügende Schulverlauf "Immer alles in Ordnung - aber nichts gelernt" endgültig der Vergangenheit angehört.