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Das Dienstleistungs-Proletariat

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny

Vor Weihnachten im Hochbetrieb.


Zeiten erhöhten Mitgefühls ebenso wie Zeiten erhöhten Konsums - kurzum Weihnachten führt einem eine Veränderung der Gesellschaft vor Augen. Man weiß es ohnehin - aber derzeit zeigt es sich noch mal deutlich: Es gibt ein neues Proletariat. Das ist nicht die Wiederauferstehung des alten Industrieproletariats. Aber in Gesellschaften mit einem starken Dienstleistungsbereich gibt es jene, die im untersten Sektor arbeiten. Sie bilden das neue Dienstleistungsproletariat.

Das ist ein Wort. Eine soziologische Einordnung. Eine politische Kategorie. Aber was ist die Lebensrealität dieser Menschen? Wie lebt man als Dienstleistungsproletarier?

Wie lebt der Taxifahrer, der zwölf Stunden täglich - entweder nachts von 18 bis 6 Uhr oder tagsüber von
6 bis 18 Uhr - fährt? Sechs Mal die Woche. Wann sieht er seine Kinder? Wie leben Paketzusteller, die täglich bis zu 200 Pakete liefern? Oft nach Stückzahl der Pakete bezahlt, was bei ihrem 10- bis 12-stündigen Arbeitstag einen Stundenlohn von ca. 5 Euro ergibt. Brutto. Überstunden sind dort, wo es keine Arbeitsnormen gibt, die man überschreiten könnte, ein Fremdwort.

Aber auch dort, wo es arbeitsrechtliche Regelungen zu geben scheint, sind die Verhältnisse nicht besser. Etwa in Supermärkten, wo Mitarbeitern klipp und klar gesagt wird: Du arbeitest heute 10 Stunden, sonst verlierst Du Deinen Job. Diese Mitarbeiter stehen sich dann 10 Stunden lang die Beine in den Bauch oder schleppen 10 Stunden lang schwere Kisten. So schreibt sich die neue Freiwilligkeit einer flexibilisierten Arbeitswelt direkt in ihre Körper ein.

Und werden diese Körper dann krank und gehen in den - gesetzlich garantierten - Krankenstand, dann werden sie oft gekündigt. Etwa im Einzelhandel von Großketten. Mit der Begründung: Krankenstand heißt nicht arbeiten wollen. So geschehen.

Möglich ist das, weil dies Leistungen von gering bis nicht Qualifizierten sind. Weil diese Leistungen keine oder kaum speziellen Kenntnisse erfordern - weshalb jeder Einzelne so leicht ersetzbar ist. Und genau das bekommen die Leute auch zu spüren. Und genau das ermöglicht auch den massiven, den ungehemmten Druck, dem sie ausgesetzt sind. In der Gastronomie ebenso wie im Handel oder im Zustellbereich.

Es sind dies Arbeitsverhältnisse, von denen man angenommen hat, dass sie in langen Arbeitskämpfen beseitigt wurden. Es ist dies die Wiederkehr einer ungeschützten Ausbeutung, von der man dachte, sie wäre in hochindustrialisierten Gesellschaften überwunden.

Dienstleistungsproletariat aber ist nicht nur eine treffende, sondern auch eine irreführende Bezeichnung. Denn diese Dienstleister sind vereinzelt - selbst dort, wo sie zu mehrt arbeiten. Sie bilden keine Gruppe: Sie sind weder gewerkschaftlich organisiert, noch haben sie ein kollektives Bewusstsein. Und es sind keine Arbeiten, bei denen ein Endprodukt entsteht. Eben deshalb erachten viele ihre Arbeit als wertlos. Eher als ein Dienstleistungsproletariat bilden sie also ein großes Segment an Dienstleistern, das unter ausbeuterischen Verhältnissen arbeitet. Das ist analytisch genauer. Die Lebensrealität, die das bedeutet, ist damit aber auch nicht erfasst.