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Lehren aus dem Gedenkjahr ziehen

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

Die Revolution von 1848 hatte Nachwirkungen bis 1918 und darüber hinaus.


Das Jubiläumsjahr 2018 ist fast zu Ende, daher kann man getrost beginnen, über eine erste Bilanz nachzudenken. Was mir besonders stark bewusst geworden ist, das ist die Tatsache, wie sehr auch zeitlich weit auseinanderliegende Ereignisse miteinander vernetzt sind und aufeinander einwirken. Die Revolution des Jahres 1848 hat zum Beispiel die gesamte Periode bis zum Ende der Monarchie im Jahr 1918 beeinflusst. Und der verlorene Erste Weltkrieg sowie der Friedensvertrag von St. Germain haben in Österreich jene Stimmung beflügelt, die sich nach dem sogenannten "Anschluss" im März 1938 bei der Rede Hitlers auf dem Heldenplatz lautstark und nahezu hysterisch bemerkbar machte. Aber auch das Scheitern der Demokratie in den letzten Jahren der Ersten Republik hatte nicht nur Auswirkungen auf die Entscheidungen bei der Wiedererrichtung eines selbständigen, demokratischen Österreichs im Jahr 1945, sondern hat die Zweite Republik jahrzehntelang geprägt.

1918 - Revolution oder Implosion der Monarchie

Ob wir jetzt gerade in einer Zeit leben, in der Grundsätze, die den Aufbau der Zweiten Republik geprägt und gestützt haben, an Relevanz verlieren, muss sorgfältig geprüft und beobachtet werden, um Fehlentwicklungen zeitgerecht zu korrigieren.

Insgesamt hat es Freude gemacht, daran mitzuwirken, dass heuer entscheidende Daten aus den seit der Gründung der Republik vergangenen 100 Jahren in Erinnerung gerufen und von vielen Seiten her beleuchtet werden konnten.

Dabei hilft in ganz besonderer Weise - und nach langen Diskussionen - auch die Eröffnung eines Hauses der Geschichte Österreich auf dem Heldenplatz in Wien.

Ob im November 1918 eine Revolution im vollen Sinn des Wortes stattgefunden hat - wie das zum Beispiel von Otto Bauer in seinem Buch "Die österreichische Revolution" dargestellt wurde - oder ob es sich eher um die Implosion der Monarchie mit gleichzeitigem Machtwechsel gehandelt hat, wird unterschiedlich beurteilt. In meinen Augen war es die Auflösung der Monarchie durch die Abspaltung von Nationalstaaten am Ende eines verlorenen Krieges und ein koordinierter und im Wesentlichen friedlich verlaufener Machtwechsel von einer kaiserlichen Regierung an ein republikanisches Parlament unter Inkaufnahme des Bruches der verfassungsrechtlichen Kontinuität.

Das konnte man von der Revolution des Jahres 1848 nicht behaupten. Als Teile der Bevölkerung in Wien und anderen Städten rebellierten, wurden revolutionäre Forderungen unter Androhung und Anwendung von Waffengewalt gestellt. Metternich sah sich gezwungen, ins Ausland zu fliehen, und auch die kaiserliche Familie verließ in Panik Wien, aber letzten Endes wurde die Revolution gegen den Absolutismus mithilfe des Militärs niedergeschlagen; es floss Blut und es wurden Todesurteile gefällt und vollstreckt. Aber schon in Revolutionsliedern wurde besungen, dass man zwar Menschen erschießen und hinrichten kann, aber nicht Gedanken.

Und das sollte sich auch bewahrheiten, denn die Forderungen der Revolution von 1848 lebten weiter, tauchten immer wieder und immer stärker auf, begannen sich schrittweise durchzusetzen, prägten den Weg der Monarchie zwischen 1848 und 1918 und leisteten Beiträge zum Rechts- und Gedankengebäude der 1918 gegründeten jungen Demokratie, was auch in der Gesetzgebung seinen Niederschlag fand.

Der von den Mittelmächten verlorene Erste Weltkrieg brachte nicht nur die Monarchie in Österreich, Deutschland und Russland zum Einsturz, sondern ermöglichte es auch nationalen und nationalistischen Bestrebungen, sich auf breiter Front durchzusetzen.

Es müssen dramatische Tage und Stunden im Oktober und November 1918 in der Wiener Hofburg und in Schönbrunn gewesen sein, als alle Versuche zur Rettung der Monarchie durch den jungen Kaiser Karl ergebnislos blieben und ihm schließlich seine engsten Vertrauten die Unvermeidbarkeit des Machtverzichts und des geordneten Übergangs zu einer demokratischen Republik nahelegen mussten.

Und erst in allerletzter Minute - am 11. November 1918, dem Tag des Waffenstillstandes - war Kaiser Karl bereit, eine Erklärung (demonstrativ nur mit Bleistift) zu unterzeichnen, mit der er zwar auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften - aber nicht auf den Thron - verzichtete.

Schon am nächsten Tag, dem 12. November, beschloss die provisorische Nationalversammlung einstimmig die Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich auf demokratischer Basis, obwohl ihre Grenzen noch nicht feststanden.

Überraschend hoher Konsens in Phase der Republiksgründung

Erstaunlich ist das relativ hohe Maß an Konsens unter den damals handelnden Akteuren beim Übergang von der Monarchie zur Demokratie. Sozialdemokraten, Christdemokraten und Großdeutsche hatten einen "Burgfrieden" geschlossen, der auch in den Bundesländern Beachtung fand und im Wesentlichen bis zum Frühjahr 1920 halten sollte.

Bemerkenswert sind aber auch die beachtlichen Reformen und Fortschritte auf vielen Gebieten in den nachfolgenden Monaten. Unser Blick auf zum Teil epochale und bis heute nachwirkende Reformen aus dieser Phase der Ersten Republik ist vielleicht durch die nachfolgenden Ereignisse, das heißt durch den Weg in den Abgrund der Diktatur und des Anschlusses an Hitlerdeutschland getrübt oder sogar verstellt worden. Aber ihre Wirkung reicht bis in die Gegenwart.

Ein letzter Höhepunkt der Phase der Zusammenarbeit in der Gründungsphase der Republik war die einstimmige Beschlussfassung der neuen Bundesverfassung in der 102. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920. Man muss bedenken, dass zu diesem Zeitpunkt die Koalitionsregierung unter der Führung von Karl Renner bereits zerbrochen war, eine mit der Fortführung der Regierungsgeschäfte betraute Drei-Parteienregierung im Amt war und die Wahl eines neuen Nationalrates bereits für Sonntag, den 17. Oktober angesetzt war, als am 1. Oktober 1920 die bis heute (nach einer Unterbrechung 1934 bis 1945) in Kraft befindliche Verfassung beschlossen wurde.

Kanzlerdiktatur oder Austrofaschismus

Der weitere steinige Weg der Ersten Republik ist bekannt und wurde im Jubiläumsjahr mit weniger Divergenzen analysiert und beurteilt, als das früher der Fall war: Nach den Wahlen des Jahres 1930 verfügte die damalige Regierung im Nationalrat nur mehr über eine Mehrheit von einer Stimme und konnte sich ausrechnen, dass diese Mehrheit - angesichts des Stärkerwerdens der Nationalsozialisten - bei der nächsten Wahl verlorengehen würde. Der Weg der parlamentarischen Demokratie schien für die Regierung immer weniger gangbar.

Ob man die Phase zwischen 1933 und 1938 als Regierungsdiktatur, als Austrofaschismus oder als Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur bezeichnet, ist meines Erachtens nicht von entscheidender Bedeutung. Entscheidend ist, dass der Weg der Demokratie mit Absicht verlassen wurde und die Weichen in Richtung Diktatur gestellt wurden. Dollfuß fiel einem politischen Mord von Seiten der illegalen Nationalsozialisten zum Opfer, was mit aller Schärfe zu verurteilen ist. Das ändert aber nichts an der negativen und tragischen Bilanz seiner dreijährigen Regierungszeit, die in eine Diktatur und eine damit verbundene innere Schwäche unseres Landes geführt hatte, weil mindestens die Hälfte der Bevölkerung sich von allen Entscheidungen ausgeschlossen fühlte.

Hitler hatte beim Einmarsch in das politisch gespaltene Österreich relativ leichtes Spiel, wobei aber der Eindruck der einmütigen Begeisterung für Hitler täuschte, weil die Hitlergegner und jene, die wussten, was der Einmarsch Hitlers für die Zukunft Österreichs bedeutete, auf den Straßen natürlich nicht zu sehen waren.

Die Warnung "Hitler bedeutet Krieg" wurde bereits am 1. September 1939 mit der Auslösung des Zweiten Weltkrieges durch den Überfall Hitlers auf Polen bestätigt. Diesmal hatte Hitler sich verrechnet, wenn er meinte, dass der Überfall auf Polen von den westlichen Alliierten ebenso reaktionslos hingenommen werden würde, wie der Einmarsch in Österreich oder im Sudetenland. Und der zweite noch größere Fehler Hitlers war der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Diesen Krieg konnte Hitler nicht gewinnen. Die Niederlage Hitlers war ein Feiertag für Österreich, denn durch diese Niederlage und durch die Befreiung Österreichs von der Nazi-Diktatur konnte die Republik Österreich im April 1945 als selbständiges und demokratisches Land in den Grenzen von 1938 wiederhergestellt und wiederaufgebaut werden. Die Anwesenheit von Besatzungssoldaten der Alliierten Mächte bis zum Oktober 1955 war zwar eine schwere Bürde für das ganze Land, was aber nichts daran ändert, dass die Niederlage Hitlers und das damit verbundene Ende der nationalsozialistischen Diktatur von allen aufrechten Österreicherinnen und Österreichern als langersehnte Freudentage empfunden wurden.

All das und noch viel mehr konnte heuer deutlich sichtbar gemacht werden. Es wird die Aufgabe von uns allen sein und bleiben, aus der Geschichte unseres Landes zu lernen und die richtigen Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.

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