Zum Hauptinhalt springen

Eine These wider die Faktenlage

Von Max Haller

Gastkommentare

Die Demokratie, nicht wie oft behauptet die Europäische Union, ist ein Friedensgarant für Europa.


In seiner Neujahrsansprache hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen eine These in den Vordergrund gestellt, die auch durch ständige Wiederholung und hochoffizielle Auszeichnungen (Nobelpreis 2012 für die EU als Friedenssicherer) nicht wahrer wird. Dies auszusprechen scheint mir unerlässlich, obwohl es die glühenden Europäer vermutlich geradezu als Sakrileg hinstellen werden.

Es sind solche Behauptungen, die dazu führen, dass die sogenannte Europäische Integration bei vielen Bürgern weit weniger enthusiastisch gesehen wird als bei den politischen Eliten. Auch der Brexit - von der Mehrzahl der Kommentatoren heute nur als ein Versagen der britischen Eliten hingestellt - muss aus dieser Sicht gesehen werden. Die These von der EU als Friedenssicherer passt auch ausgezeichnet zur Argumentation des von den Medien hofierten Wanderpredigers Robert Menasse, der offenkundig nicht zwischen den Rollen als Schriftsteller und politischer Kommentator unterscheiden kann; auch für ihn ist es der Nationalismus, der zu den europäischen Katastrophen der Weltkriege geführt hat.

Nicht die Nationalstaaten waren die Kriegstreiber

Die These, die europäische Einigung sei die Hauptursache für den nun über ein halbes Jahrhundert währenden Frieden in Europa, widerspricht offenkundigen historischen Fakten. Die Auslöser des Ersten Weltkrieges waren nicht die nationalistischen Massen in Österreich und Deutschland, sondern zwei klar identifizierbare Gruppen und Akteure: zum einen die alten aristokratischen Herrscher, die schon seit Jahrhunderten Europa mit Erbfolge- und anderen Kriegen überzogen hatten. Noch für Kaiser Franz Joseph I. (ähnlich für Wilhelm II.) war der Krieg geradezu ein Art Gottesurteil, dem man sich in bestimmten Situationen stellen musste und dem man es überließ, wer wo herrschen konnte.

Die zweite Gruppe waren Kriegstreiber wie der österreichische Feldmarschall Conrad von Hötzendorf und militärische Strategen im deutschen Großen Generalstab, wie Alfred Graf von Schlieffen, Helmuth von Moltke, Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff. Sie hatten schon ein Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Weltkriegs den sogenannten Schlieffen-Plan entwickelt, der zuerst eine Eroberung Frankreichs und nach erfolgreichem Abschluss einen Angriff auf Russland vorsah (nachzulesen im beeindruckenden Werk "Der Griff nach der Weltmacht" des österreichisch-deutschen Historikers Fritz Fischer). Im Laufe des Krieges bestimmte dieser autoritäre Generalstab praktisch die gesamte deutsche - und indirekt auch die österreichische - Politik. Ihr Plan scheiterte dramatisch, genauso wie jener der raschen Unterwerfung Serbiens - vor allem deshalb, weil Russland durch seine Kriegserklärung alle Planspiele zunichtemachte.

Noch offenkundiger ist, dass der Zweite Weltkrieg nicht von den europäischen Nationalstaaten ausgelöst wurde. Dies kann man nur behaupten, wenn man Nationalismus und Faschismus in einen Topf wirft. Die Betreiber und Auslöser des Krieges waren die faschistischen Diktatoren Benito Mussolini und Adolf Hitler, für die Kriege ein legitimes Mittel zur Schaffung von neuem Lebensraum für die aus ihrer Sicht höherstehenden europäischen Völker und Rassen war; Mussolini hatte damit schon 1935 durch seinen mörderischen Krieg in Abessinien begonnen.

Stresemanns frühe Idee einer europäischen Einigung

Die alten Nationalstaaten Großbritannien und Frankreich hätten nach dem Ersten Weltkrieg jedoch nicht im entferntesten an einen Zweiten gedacht - im Gegenteil. Tatsächlich wurde 1928 in Paris auf Betreiben Frankreichs und der USA von elf Nationen - darunter dem Deutschen Reich, Frankreich und Großbritannien - der sogenannte Briand-Kellog-Pakt unterzeichnet, ein völkerrechtlicher Vertrag zur Ächtung des Krieges. Deutschland war unter großem internationalen Beifall schon 1924 dem Völkerbund beigetreten. Außenminister Gustav Stresemann entwickelte kurz vor seinem Tode 1929 sogar die Idee einer europäischen Einigung mit gemeinsamer Währung (durch Hitlers Aufstieg verlief die Geschichte vollkommen anders). Aber auch bei der letztendlichen Niederschlagung des nationalsozialistischen Terror- und Mörderregimes wirkten die europäischen Nationalstaaten Frankreich und Großbritannien entscheidend mit.

Dass die Demokratie die entscheidende Voraussetzung für dauerhaften Frieden zwischen Völkern darstellt, hat der Philosoph Immanuel Kant in seinem berühmten Essay über den "Ewigen Frieden" schon 1795 dargelegt. Er argumentiert sehr einfach, eigentlich soziologisch: In Kriegen gewinnen in aller Regel nur einige wenige - politische Eliten, autokratische Herrscher, Waffenproduzenten usw. -, während die Masse der Bevölkerung den Blutzoll zu entrichten hat und auch als Zivilbevölkerung massiv in Mitleidenschaft gezogen wird. Eine Demokratie wird daher nie gegen eine andere Demokratie Krieg führen, wenn alle Bürger ein Mitspracherecht bei Kriegsvorbereitungen und Kriegserklärungen haben. Hunderte politikwissenschaftlich-historische Studien haben Kants These überprüft; keine einzige konnte sie widerlegen.

Schon aus diesen Überlegungen folgt, dass die politische Integration von Nationalstaaten keine notwendige Voraussetzung für die Sicherung des Friedens ist. Dass sie es auch de facto nicht ist, zeigt die Tatsache, dass auch innerhalb von großen politischen Gemeinschaften immer wieder innere Kriege vom Zaun gebrochen werden. In der mehrtausendjährigen Geschichte Chinas folgten auf Phasen der Einigung und Zentralisierung immer wieder Phasen, in denen das Reich zerfiel und blutige Bürgerkriege ausbrachen. Kants These wird auch durch Europas Geschichte seit 1945 klar belegt. Die schrecklichen Kriege in Jugoslawien 1989 bis 1994 wurden eindeutig ausgelöst, weil Slobodan Milosevic das ohnehin undemokratische kommunistische System noch weiter durch die Herstellung einer Dominanz Serbiens vertiefen wollte. Die Kriege in der Ukraine und auf dem Kaukasus verursachte das von Wladimir Putin autoritär geführte Russland. Sie waren vorbereitet worden durch höchst ungeschickte, demokratisch unzureichend legitimierte Bestrebungen der ukrainischen Regierung, alles Russische im Land zu marginalisieren.

Auflösung der Nationalstaaten ist nicht zwingend notwendig

Was folgt für die Beurteilung der Europäischen Integration im Hinblick auf die Friedenssicherung in Europa? Wenn auch die These, dass sie dafür notwendig sei, nicht haltbar ist, so kann man ihre positive Rolle in dieser Hinsicht durchaus anerkennen. Wenn Staaten nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch eng verflochten sind und dadurch in kontinuierlichen Beziehungen zueinander stehen, wird das Risiko für die Entstehung von Misstrauen und verhängnisvollen Missverständnissen sicherlich geringer.

Allerdings wäre dieser Beitrag zur Sicherung des Friedens auch ohne weiteres möglich unter Verzicht auf das Motto, nach einer immer engeren Integration Europas ("an ever closer union"), also letztlich einer Auflösung der Nationalstaaten, zu streben. Es kann nur im Interesse der europäischen Integration und der EU selber sein, nicht immer wieder Behauptungen zu wiederholen, die von vielen nicht geglaubt werden.

Zwischen Integration und Frieden in Europa besteht in der Tat ein enger Zusammenhang, aber beide sind abhängig von der Demokratie: Die europäische Integration wurde erst möglich zwischen demokratischen Staaten, und die EU hat zu Recht als eine Voraussetzung für den Beitritt neuer Staaten festgeschrieben, dass diese echte und stabile demokratische Institutionen und Prozesse aufweisen müssen.

Zum Autor