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Eine Rückkehr in die Gegenwart ist dringend nötig

Von Kurt Ruppi

Gastkommentare
© adobe.stock/Roman Milert

Bei der Rettung des Planeten vor uns selbst haben wir schon zu viel Zeit vergeudet.


100 Jahre Kriegsende und Erste Republik; 80 Jahre Novemberpogrome und wieder Kriegsbeginn, 40 Jahre Zwentendorf . . . Das Gedenken des vergangenen Jahres an diese Ereignisse wird wohl bald wieder langsam aus dem Bewusstsein der Medien und der Öffentlichkeit zurücktreten. Die vergangenen Wochen mit all ihren Bemühungen, die jungen Leute nicht vergessen zu lassen, welcher Grausamkeiten die Menschen fähig sind, welche Fehler dazu führen, dass sie geschehen, und welches Leid sie zur Folge haben, gehören zu den wichtigsten Aufgaben aller öffentlichen Medien. Diese Pflicht wurde - jedenfalls hier bei uns - erkannt und auch erfüllt. Und dies trotz aller Meinungsverschiedenheiten auf ausgezeichnete Weise.

So wie vor 100 Jahren ist auch jetzt wieder ein Neustart nötig - bitte wieder mit maßvollen Visionen! Österreich, Europa, die Welt hätten es bitter nötig. Erkannt hat das die Politik ja schon. So will Umweltministerin Elisabeth Köstinger, dass wir uns "auf den Weg in eine erdölfreie Gesellschaft machen". Wir sollten uns wieder der Gegenwart zuwenden und um jene großen Probleme und Risiken bemühen, die uns heute unter den Nägeln brennen. Sich dies zu wünschen und laut auszusprechen, steht jedem Bürger in jedem demokratischen Land zu.

Der wichtigste Schluss, der aus den Geschehnissen des vergangenen Jahrhunderts zu ziehen wäre, ist folgender: Jede Polarisierung, jede Missachtung der Anderen, jede Herausforderung oder Beleidigung politischer, religiöser, ethnischer oder wirtschaftlicher Gegner führt zu gesellschaftlichen Verhärtungen und kann früher oder später Grausamkeit, sogar Gewalt auslösen. Dass genau diese Polarisierung derzeit weltweit deutlich stärker wird - sei es durch Androhung oder Verhängen von Sanktionen oder Strafzöllen, Armut erzeugende Steuerflucht oder offene Gewalt und Krieg -, ist besorgniserregend und widerspricht allen christlichen und westlichen Werten.

Das durch Vorsorge geprägte menschliche Verhalten

Diese Polarisierungen wieder zu dämpfen, mit Bedacht und Verstand, und die notwendigen Aufgaben der Gegenwart anzugehen, ist sicher alles wieder tatsächlich sehr kompliziert; deshalb ist ein kritischer Blick auf die Startbedingungen notwendig.

Wie ist unser Umgang mit der Welt, was ist für uns Wirklichkeit, wie sehen wir die Gegenwart? Zunächst ist festzustellen, dass unsere Lebensweise wahrscheinlich aus dem Wunsch nach Vorsorge für die Zukunft entstanden oder - wenn man so will - dem Selbsterhaltungstrieb des Lebens zu verdanken ist. Neuntöter, Eichhörnchen oder Biber können zwar auch vorsorgen, wahrscheinlich instinktiv. Wir Menschen aber können es noch viel besser, wie wir meinen. Wir haben mehr und bessere Werkzeuge: geschickte Finger sowieso, aber zusätzlich Sprache und Schrift, viel Fantasie und auch den Verstand samt durch ihn erworbenem und weitergegebenem Wissen. Dies haben wir sehr effektiv zur Gestaltung unserer künstlichen Lebenswelt, unserer technischen Zivilisation genutzt, die auch starke Glanzlichter auf den Gebieten von Kunst, Philosophie und Wissenschaft gesetzt. Insgesamt ein bewundernswertes Netz vielfältiger Menschenkulturen, aber doch an Komplexität nicht vergleichbar mit dem Netz der Natur.

Zunächst: Jeder von uns ist zu Beginn alles andere als ein unbeschriebenes Blatt, wir haben einen eingebauten Charakter und eine darübergestülpte Prägung, die ihrerseits wieder von den Erlebnissen und Traditionen der Vorfahren abhängt (und auch Vorurteile ermöglicht). Von Geburt an setzen wir uns mit den Aspekten unserer Umgebung auseinander, Charakter und Vorurteile können sich mehr oder weniger ändern, und dies alles bestimmt ein Leben lang unsere Art, die Erlebnisse unserer Gegenwart in unsere persönliche Wirklichkeit einzubauen. Also ein recht unzulängliches Erkenntnisvermögen.

Heute wissen wir sicher,dass wir Schaden anrichten

Auch ist festzustellen, dass die Nützlichkeit unserer technischen Welt Nachteile zeigt, die sich zunehmend als gefährlich erweisen; denn wir holen alles Mögliche aus der Natur, zerlegen es, bauen es um, damit es uns kurze Zeit nützt. Wenn es das nicht mehr kann, wird es der Natur "zurückgegeben" (Gebäude, Maschinen, Gebrauchsgegenstände etc). Diese Dinge haben bereits bei der Herstellung und der Verwendung Abfall und Schadstoffe erzeugt und tun dies auch noch bei der kontrollierten Entsorgung (wenn diese überhaupt durchgeführt wird); all dieses, der Natur und dem heutigen Stand der Evolution zum Teil völlig fremde Material mischt sich nun in alle natürlichen Vorgänge und Kreisläufe - unvermeidlich und mit teilweise unabsehbaren Folgen, schon lange Zeit und immer mehr.

Heute wissen wir mit Sicherheit, dass wir Schaden anrichten. Die Frage ist nun, was zur Vorbeugung oder Verhinderung von groben Unannehmlichkeiten zu tun wäre. Damit sind wir wieder gezwungen, uns mit der Gegenwart zu beschäftigen, und zwar mit den bestehenden Handlungsmöglichkeiten, die unsere Beschaffenheit zulässt - und das ist in erster Linie unser Verstand.

Zwei Welten: eine von der Natur und eine von uns geschaffene

Solange wir unsere Umgebung nicht allzu sehr veränderten, genügte die Ausrüstung, die uns die Evolution mitgegeben hatte, um in einer natürlichen Umgebung zu bestehen. Heute aber leben wir in zwei verschiedenen Welten gleichzeitig: in der Natur und in der von uns selbst geschaffenen Welt. Diese müssten miteinander im Einklang sein - das jedoch hat unser Bewusstsein noch nicht wirklich begriffen.

Einerseits sind wir Geschöpfe der Natur, der Evolution; alle Natur ist Materie, wir Menschen können (noch) kein künstliches und stabiles Atom schaffen, können sie nur umformen oder zerplatzen lassen. Auch alles Lebendige ist Natur, uns eingeschlossen. Wir sind auf sie angewiesen, von ihr abhängig, Teil von ihr. Andererseits leben wir in einer zweiten Welt, in jener, die wir uns selbst eingerichtet haben: in der von uns massiv veränderten, die wir als "Kultur", als unsere künstliche, zivilisierte und industrialisierte Lebenswelt sehen. Wir haben uns irgendwie aus der Natur herausgenommen und uns scheinbar in eine riesige Blase gesetzt, und wir haben lange geglaubt, dass wir in dieser Blase aus der Natur nehmen können, was wir wollen, und alles damit tun können, was uns eben so gefällt, ohne dass dies große Folgen hätte. Doch es gilt zu bedenken: Diese Blase liegt komplett innerhalb der Natur und ist völlig durchlässig. Die Evolution nimmt auch hier alles, was sie kriegen kann, und macht damit alles, was möglich ist. Sie probiert alles aus, und weiß nie, was dabei herauskommt.

Eine Gesellschaft ohne Erdöl und frei von Plastik

Ist eine erdölfreie Welt möglich? Natürlich, denn die gab’s ja schon. Heute und hier ist nur noch eine Welt möglich, die kein Erdöl verwendet; das, was schon da ist, können wir nicht mehr zurückpumpen - damit müssen wir wohl leben, auch wenn es uns bereits besiedelt. Ob wir unter diesen Umständen gesund bleiben können? Allein dies nachzuweisen, wird "strategisch und fächerübergreifend erforscht" werden müssen, meinte Ministerin Köstinger sinngemäß.

Wenn wir den Versuch machen wollen, uns einer erdölfreien Gesellschaft zu nähern, müssen wir genügend Biostrom erzeugen, dass alle Antriebe damit versorgt werden können, alle möglichen Wärmequellen betreiben (Sonnen-, Erdwärme und Energierückgewinnung), alle Anwendungen von Kunststoffen durch Naturprodukte ersetzen und vieles, das wir heute benutzen, gar nicht mehr herstellen.

Für Österreich und ähnliche Länder wäre eine solche Entwicklung auch vorstellbar; das könnte wirklich viele Forschungsplätze und Jobs schaffen - man müsste nur eine Möglichkeit finden, ein solches Vorhaben auch zu finanzieren. Allerdings werden wir auch immer mehr Geld brauchen, um die bereits entstehenden Schäden zu reparieren - Baustellen über Baustellen. Es werden also Forscher nötig sein, viele Helfer und Geld. Das alles wäre da - es müsste nur richtig eingesetzt werden. Letztlich sind das genau die Bedingungen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Was Mangelware ist: Zeit. Wir haben schon zuviel davon vergeudet.

Doch macht Köstingers Aussage Hoffnung - immerhin ist sie eine Ministerin der amtierenden Bundesregierung. Ob ihre sehr mutige Überzeugung in die Tat umsetzbar und finanzierbar ist, wird sich zeigen.

Kurt Ruppi war bis zu seiner Pensionierung als Bautechniker tätig.