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Ein verheißungsvoller Neustart für Europa?

Von Michael Gehler

Gastkommentare

In Aachen soll am 22. Jänner ein neuer deutsch-französischer Vertrag unterzeichnet werden. Es kann ein Hoffnungsschimmer sein - wenn man genügend andere Staaten einbindet.


Am 22. Jänner 1963 unterzeichneten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer in Paris den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit. In der Außenpolitik besteht seither Konsultationspflicht. Im Bereich Verteidigung, Kultus, Sprachförderung, der Gleichwertigkeit der Diplome und der Forschung war Kooperation angesagt. Ein gemeinsames Jugendwerk wurde Realität. Zahlreiche Partnerschaften zwischen Städten, Schulen und Vereinen folgten.

25 Jahre später ergänzten Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident François Mitterrand den Vertrag mit Räten für Verteidigung und Sicherheit sowie Finanz-, Wirtschafts- und Währungspolitik. Im Zeichen des 40-jährigen Gedenkens gab es erstmals einen deutsch-französischen Ministerrat sowie eine Sitzung des Bundestags und der Nationalversammlung in Versailles. Ein Fonds für Kulturprogramme wurde geschaffen. Zur 50-Jahr-Feier wurde ein deutsch-französisches Jahr auf offizieller und zivilgesellschaftlicher Ebene ausgerufen. Der Stab des Eurokorps feierte in Straßburg.

Gescheitertes Vorhaben im Vorjahr

Die ergebnislosen Verhandlungen zur Bildung einer "Jamaika-Koalition" (CDU/CSU-FDP-Grüne) in Deutschland im Herbst 2017, das Herumlavieren der SPD in der Frage der Regierungsbeteiligung und die zähe Bildung der großen Koalition im Frühjahr 2018 mit dem anhaltenden Dauer-Clinch zwischen CDU und CSU in der Migrationsfrage schwächten die deutsche Position in der EU. Die Bundeskanzlerin war aufgrund ihrer umstrittenen Migrationspolitik durch sinkenden innenpolitischen und innerparteilichen Rückhalt kaum noch durchsetzungsfähig. Angela Merkel versagte auch in der zeitgerechten Beantwortung der Reformvorstöße des französischen Staatspräsidenten. 2018 wurde so zu einem verlorenen Jahr für das gemeinschaftliche Europa - es droht nun ein neues. Emmanuel Macron hat sich inzwischen durch die Proteste der "Gelbwesten" und sein langes Schweigen selbst delegitimiert und ist innenpolitisch angeschlagen. Nun soll die Freundschaft zwischen Bonn und Paris am 22. Jänner im Krönungssaal des Aachener Rathauses erneuert werden, in der Stadt des Karlspreises, den 2018 Macron verliehen bekam.

Es geht um ein ergänzendes Vertragswerk, das an den Élysée-Vertrag 1963 anknüpfen soll. Es hat eine lange Präambel, die die deutsch-französische Freundschaft beschwört. In 28 Artikeln wird das Spektrum der künftigen Kooperation aufgezeigt. Berlin und Paris versichern einander eine möglichst enge Abstimmung in Fragen der Europapolitik und die wechselseitige Pflicht zur Vertiefung ihrer Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wann und wie immer möglich, soll gemeinschaftliches Agieren folgen. Das eigenständige Handeln der EU wird ausdrücklich betont.

Verteidigung als Priorität, die UNO als Referenz

Berlin und Paris bekräftigen zudem ihren gegenseitigen Beistand im Falle eines bewaffneten Angriffs auf eines der Länder, wie das Artikel 5 des Nato- und Artikel 42 des EU-Vertrages schon vorsehen. Militär- und Rüstungskooperation sollen effizienter werden. Ein regelmäßig zusammentretender Sicherheits- und Verteidigungsrat von Ministern beider Regierungen soll dabei behilflich sein. Gemeinsame Streitkräfte mit Interventionsfähigkeit, die Macron schon seit langem in die Debatte geworfen hat, gelten als fixiert. Zur Stabilisierung politisch prekärer Drittstaaten soll zwar nicht militärisch, aber geheimdienstlich, justiziell und polizeilich agiert werden sowie eine engere europäische Partnerschaft mit Ländern Afrikas folgen.

Kooperation gilt auch für den Rahmen der Vereinten Nationen, zumal Deutschland nun für zwei Jahre als nichtständiges Mitglied den Vorsitz im Sicherheitsrat übernommen hat und der französische folgen wird. Die Unterstützung für das deutsche Anliegen ist zugesichert, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erlangen, womit jedoch die Absicht, den ständigen Sitz Frankreichs in einen EU-Sitz umzuwandeln, ad acta gelegt ist - und damit auch die Idee, mit einer "europäischen Stimme" in der Weltgemeinschaft zu sprechen.

Gemeinsame Energiewende und Wirtschaftsraum als Ziel

Bestimmungen zu deutsch-französischen Grenzregionen sehen Verbesserungen im Zusammenwirken bei Infrastruktur- sowie im Gesundheitsbereich durch gemeinsame Berufsschulzentren, Gewerbegebiete und Krankenhäuser mit Zweisprachigkeit vor. Die Grenzräume können dabei von nationalstaatlichen Gesetzen abweichen. Nicht weniger feststellenswert ist das hehre Ziel, einen gemeinsamen deutsch-französischen Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln zu bilden.

Ein deutsch-französisches Zukunftswerk soll Wissenschaft und Forschung mehr zueinander bringen, um den gesellschaftlichen Wandel in beiden Staaten zu untersuchen und entsprechende Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Nach den Studien- sollen nun auch Schulabschlüsse gegenseitig anerkannt werden ("Abibac").

Ist eine bilaterale Energieunion noch in sehr weiter Ferne, so soll wenigstens die Energiewende gemeinsam vorangetrieben und erneuerbare Energien stärker gefördert werden. Mutig wären ein rechtswirksam anzustrebendes deutsch-französisches Einwanderungsgesetz als Impulsgeber für die übrigen EU-Mitglieder wie auch eine verbindliche gemeinsame Energiepolitik gewesen.

Die großen Unterschiede zwischen 1963 und 2019

Der Élysée-Vertrag war schon 1963 in der kleinen Sechser-Gemeinschaft sehr umstritten. Die Benelux-Staaten waren gegen den Ausschluss von Großbritannien durch de Gaulle, den Adenauer billigte. Heute sind es viermal mehr Staaten, und die Briten stehen vor dem EU-Austritt. Die Vorbehalte mittel- und osteuropäischer Staaten gegen das Avantgarde-Gebaren von Berlin und Paris sind nicht zu unterschätzen. Umso schwieriger wird der Neuanlauf mit einem innenpolitisch instabilen und unruhigen Frankreich und dem größer gewordenen vereinten Deutschland, das zum Missbehagen von Budapest, Prag und Warschau die EU von heute weit mehr dominieren kann als die Bonner Republik die EWG. Widerstände wegen der so wahrgenommenen Bevormundung durch das Duo sind ohnedies schon vorhanden und weiter vermehrt zu erwarten.

Es bleibt für Deutschland trotz aller innenpolitischen Zerrissenheit ein regierungspolitisches Ziel, deutsche und europäische Interessen miteinander zu verknüpfen. Die selbsteingebundene Vormacht Europas kann sich mit dem Aachener Vertrag aus der selbstverschuldeten europäischen Handlungsschwäche wieder etwas herausmanövrieren. Ein starker koalitionspolitischer Konsens ist dafür aber unvermeidlich, um aus der hausgemachten europäischen Selbstisolierung auszubrechen.

Mit dem Vertrag von Aachen könnte ein Zeichen zur Überwindung der Krise in der EU gesetzt und zumindest die permanente Negativdebatte über das Brexit-Chaos, das alles zu überschatten droht, etwas abgebremst werden. Im Lichte der prekären Mischung aus innenpolitischer Radikalisierung in Frankreich, des offenen EU-Finanzrahmens infolge des Brexit und dem fraglichen Euro-Kandidaten Italien ist der deutsch-französische Akt ein Hoffnungsschimmer. Wenn es jedoch nicht gelingt, andere Staaten dazu zu gewinnen und miteinzubinden, wird es kaum ein verheißungsvoller Neustart.