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Flüchtlinge und Menschenrechte

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

Niemandem ist geholfen, wenn Menschen gegeneinander ausgespielt werden.


Wenn eine Gruppe junger Männer bei erhöhter Lawinengefahr mit Skiern auf ungesichertem Gelände unterwegs ist, eine Lawine auslöst und etliche Menschen dabei ums Leben kommen, dann ist das eine Tragödie, über die auf den Titelseiten unserer Zeitungen berichtet wird. Und wenn die Bergrettung drei Verschüttete zeitgerecht lebend bergen und retten kann, dann ist die Freude und die Anerkennung, dass drei Menschen aus einer Gefahr, in die sie sich selbst begeben haben, gerettet werden konnten - zu Recht - riesengroß.

Wenn hundert Menschen in ein Flugzeug steigen, um von A nach B zu gelangen und das Flugzeug stürzt ab, dann ist das eine Katastrophe, die weltweit Schlagzeilen macht.

Wenn aber 140 Flüchtlinge an der nordafrikanischen Küste in Boote steigen um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, und dabei ums Leben kommen, weil die Boote im Sturm kentern, dann erfährt man darüber - wenn überhaupt - aus einer kleinen Notiz auf Seite 5 einer Tageszeitung. Und die Reaktionen sind ganz anders.

Wie viel ist ein Leben wert?

Muss einen das nicht nachdenklich machen? Ist das Leben von Männern, Frauen und Kindern, die zum Beispiel dem Krieg in Syrien entkommen wollen, weniger wert als das Leben von Passagieren eines Flugzeuges oder von Touristen in der Bergwelt? Das kann es ja wohl nicht sein!

Oder ist das Bemühen um Asyl, das eine Flucht vor Krieg und Diktatur möglich machen soll, inzwischen ein Makel, der die Betroffenen einer Aufmerksamkeit und mitfühlenden Anteilnahme weitgehend entzieht und sogar allfällige Retter in Verruf bringt?

Oder gibt es noch eine dritte Erklärung, die etwa folgendermaßen lautet: Seit der Aufklärung hat sich im europäischen Wertesystem der Gedanke durchgesetzt, dass zwar nicht alle Menschen gleich sind, wohl aber gleichwertig. Das heißt, dass es keine überlegenen Rassen, Nationen oder Volksgruppen und auch keine minderwertigen Rassen, Nationen oder Volksgruppen gibt. Am schönsten ist das im Artikel 1 der Menschrechtsdeklaration ausgedrückt, wo es bekanntlich heißt: "Alle Menschen sind gleich an Rechten und Würde geboren: Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." Dieser Satz ist ein Grundwert europäischer Verfassungen und des europäischen Rechtsstaates. Aber starke Kräfte, starke Vorurteile, starke Emotionen stellen sich immer wieder gegen dieses Grundprinzip. Das gibt niemand offen zu, aber es existiert in vielen Köpfen und führt zu vielfältigen Formen der Diskriminierung.

Niemals wieder

Über Jahrhunderte hinweg reichte zum Beispiel die Tradition, in den Juden Menschen minderen Wertes und minderer Rechte zu sehen, und gerade in jüngerer Zeit, nämlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erreichte die systematisch forcierte und brutale Herabsetzung, Verachtung und Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden entsetzliche Tiefpunkte. In dieser extremen Form darf sich das und wird sich das meiner Überzeugung nach nie wieder wiederholen.

Es gibt aber auch viele andere Beispiele des Verstoßes gegen den Gedanken der gleichen Menschwürde. Auch Religionen neigen oder neigten dazu, die Anhänger der eigenen Religion in vielfacher und vielfältiger Weise über die Angehörigen anderer Religionen zu stellen. Die Kreuzzüge des Mittelalters waren Beispiele, wie sich Christen haushoch über die Muslime stellten und viele Verstöße gegen die Menschenwürde durch den Grundsatz "der Zweck heiligt die Mittel" als gerechtfertigt betrachteten; in gleicher Weise waren es zu anderer Zeit und an anderen Orten die Muslime, die den Christen an Verachtung und Brutalität nichts schuldig blieben.

Nationalismus als Irrglaube

Was in früheren Jahrhunderten oft die Religion war, wurde in jüngerer Vergangenheit durch die Nation ersetzt. Nationalismus ist der Irrglaube, dass die eigene Nation besser ist, höherwertiger ist, mehr Rechte hat etc. als andere Nationen und Nationalitäten. Und dieser Nationalismus hat Wurzeln, die ebenfalls weit in die Geschichte zurückreichen und die sich nach meiner Beobachtung in den letzten Jahren in Europa und auch außerhalb Europas wieder verstärkt bemerkbar machen. Dazu gehört auch eine die Menschenrechtsdeklaration ignorierende Einstellung gegenüber Menschen anderer Nationalität, anderer Religion, anderer Hautfarbe.

Ich leugne nicht, dass das dauerhafte Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalität, unterschiedlicher Religion, unterschiedlicher Hautfarbe und unterschiedlicher Sitten und Gebräuche Schwierigkeiten bereiten kann. Diese liegen nicht in der Tatsache begründet, dass die eine Nationalität besser, höherwertiger oder schützenswerter ist als die andere beziehungsweise schlechter, minderwertiger oder weniger schützenswert als die andere, aber kulturelle Unterschiede und unterschiedliche Gewohnheiten können auch bei gutem Willen etliche Probleme bereiten.

Und an dieser Stelle scheiden sich die Geister. Denn angesichts dieser Fakten gibt es zwei Möglichkeiten, wie man das Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Nationen und Kulturen organisieren und gestalten kann. Man kann die Unterschiede hochspielen, man kann "die anderen" schlecht machen, Vorurteile pflegen, Neidkomplexe schüren etc. Oder man kann bemüht sein, den Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Menschen und der gleichen Menschenwürde trotz mancher Schwierigkeiten hochzuhalten und Energien nicht in das Schüren der Gegensätze zu investieren, sondern in die Lösung von Problemen. Wem nützt man denn, wenn man junge Menschen, denen es gelungen ist, sich zu integrieren, die eine Lehre absolvieren und in ihrer Umgebung voll akzeptiert sind, mit hohen Kosten und gegen ihren Willen in ihre Heimat zurückschickt - auch wenn man nicht weiß, was dort mit ihnen geschieht.

Menschenwürde ist unantastbar

Es ist richtig, dass ein Flüchtlingsstrom von mehr als 80.000 Asylsuchenden für ein Land wie Österreich eine ganz außergewöhnliche Belastung und eine außergewöhnliche Situation darstellte. Aber es ist meines Erachtens nicht der richtige Weg, mit einer außergewöhnlichen Belastung fertig zu werden, indem man Flüchtlinge oft pauschal zu Sündenböcken macht, indem man Vorurteile schürt, indem man sie zu Schmarotzern und "Sozialtouristen" stempelt.

Das geschieht zum Beispiel auch dadurch, dass man für die Bürger eines Landes ein Lebensminimum (Mindestsicherung) definiert, aber dann zusätzliche Spielregeln einführen will, die besonders auf Flüchtlinge zutreffen und für diese das Lebensminimum noch weiter gravierend herabsetzt. Hier wird nicht "sachlich differenziert", sondern es werden bewusst Schranken zwischen den "Eigenen", den Stärkeren, den Wahlberechtigten und den "Anderen", den Schwächeren, den Flüchtlingen, den nicht Wahlberechtigten geschaffen.

Es mag schon sein, dass eine solche Politik bei entsprechender medialer Unterstützung zeitweise mehrheitsfähig ist. Aber Menschenrechte und Menschenwürde nicht als unantastbar zu betrachten und obendrein ein "kreatives" Umgehen bestehender Regelungen in Aussicht zu stellen, halte ich für unakzeptabel.

Menschen, die in Österreich wohnen, die aber nicht in Österreich geboren wurden, und erst recht solche, deren Eltern nicht in Österreich geboren wurden, hat es immer schon gegeben und sie sind zunächst immer auf einen gewissen Widerstand gestoßen. Aber im Zeitalter der Globalisierung und der europäischen Integration müssen wir uns besonders sorgfältig und besonders verantwortungsvoll mit diesen Fragen auseinandersetzen.

Österreich soll und wird ein europäisches Kulturland bleiben. Die deutsche Sprache wird weiterhin die Staats- und Wirtschaftssprache bleiben. Die Grundwerte unserer Verfassung sind von größter Wichtigkeit und müssen von allen respektiert werden. Wir bleiben aktive und überzeugte Mitglieder der EU und dürfen einen aggressiven Nationalismus nicht groß werden lassen.

Kein kreatives Spiel mit Rechten

Gemeinsame Anstrengungen in dieser Richtung werden erfolgreich sein, während ein "kreatives" Spiel mit Grundrechten unser Land spaltet und letztlich uns allen schaden würde.

Auch die Politik ist an das Recht gebunden. Und wenn kürzlich ein Regierungsmitglied den Standpunkt vertreten hat, dass nicht die Politik dem Recht zu folgen hat, sondern das Recht der Politik, dann wird der Rechtsstaat massiv herausgefordert. Denn im demokratischen Rechtsstaat ist auch die Politik an das Recht gebunden.