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Tante Jolesch und die Erinnerungskultur

Von Werner Stanzl

Gastkommentare

Die Deutschen sind dabei, ihren erbitterten Kampf gegen das Vergessen zu verlieren, die Österreicher reanimieren ihre Staatslüge.


Das Gedenken an die Öffnung der Tore zum KZ-Auschwitz vor 74 Jahren hat einmal mehr gezeigt: Unsere Erinnerungskultur - nämlich die Transformation vom schlechten Gewissen der vorangegangenen Generationen in ein gutes Gewissen der unbelasteten gegenwärtigen und zukünftigen Generationen - hat versagt. 40 Prozent, also fast die Hälfte aller deutschen Jugendlichen, gaben bei repräsentativen Umfragen an, dass sie zum Holocaust wenig bis gar nichts wüssten. In Österreich dürfte die Zahl der Wissenden etwas größer sein, jedenfalls lässt das allgemeine Süd-Nord-Gefälle auf dem Schulsektor des deutschen Sprachraums diese Annahme zu.

Hinter dem Wissensplus der österreichischen Gegenwartsgeneration zu den schrecklichsten Kapiteln unserer gemeinsamen Geschichte lugt jedoch die Grinsekatze der Staatslüge der Alpenrepublik hervor. Sie lässt fragen: Wie soll eine Vergangenheit bewältigt werden, in der man sich so lange als Täter belog, bis man selbst glaubte, ein Opfer gewesen zu sein?

Nun sind Staatslügen in Österreichs Historie nichts Auffälliges. Ja, die Staatswerdung in Rot-Weiß-Rot fußt sogar auf einer solchen, bekannt als "Privilegium Maius". Die dreiste Urkundenfälschung der Habsburger aus dem Jahr 1421 garantierte ihren Latifundien laut Reichsrecht die Unteilbarkeit. Erst damit war das Zusammenwachsen der österreichischen Ländereien zu einem besiegelten Ganzen möglich.

Auch nach den großen Schlachten im April und Mai 1945 schlug der Schlawi(e)ner zu. Die Politik der Sieger, alles gutzuheißen, was deutsche Schuld mehrte, erlaubte es den Österreichern, sich vor einer staunenden Weltöffentlichkeit als Opfer auszugeben. In die Bredouille seien sie gekommen, damals im März 1938, weil "kein deutsches Blut" vergossen werden sollte (Zitat Kurt Schuschnigg). In dieser Lesart bekam ihr "Nie wieder" sein zweifelhaftes Echo.

Eine überzeugende und nachhaltige Farce

Wohl waren ihre Schwüre ehrlich gemeint, aber die Schwörenden trennten die Schuldigen in zwei Gruppen: in deutsche Unmenschen und österreichische Waserln. Diese Farce war so überzeugend und nachhaltig, dass die heranwachsenden Österreicher gegenüber Deutschen nicht selten empfanden und empfinden, was man eigentlich von der jüdischen und israelischen Jugend erwartet hätte: Verachtung und Ablehnung. Seither schaut man in Richtung Walserberg, wenn von Mauthausen die Rede ist. Noch dazu, wo man doch den Juden Bruno Kreisky wählte und verehrte. Waren da der Klotz auf dem Judenplatz und die Stolpersteine allüberall auf den Gehsteigen wirklich von Nöten? So glitt Österreich ohne Vergangenheitsbewältigung in ein Erinnern an Verbrechen, die Ihresgleichen nie begangen hätten.

Anders bei den ernstzunehmenden Vergangenheitsbewältigern an Rhein, Elbe, Isar und Spree. Seit Jahren führen sie einen totalen Krieg (man kann es nicht anders nennen) gegen das Vergessen. Sie füllen ihre Fernsehprogramme mit allen Facetten der Abscheulichkeiten ihrer Geschichte und kommen der eigenen Jugend nur insofern entgegen, als sie die Verbrecher nur selten als Deutsche, sondern tunlichst als Nazis auftreten lassen. So, als ob diese Nazis eine dritte Art im sogenannten Volkskörper gewesen wären.

Maschinerie der deutschen Erinnerungskultur

Doch: Zwei Programmstunden historischer Lokalreportagen aus Birkenau, Bergen Belsen, Theresienstadt, Dachau, Auschwitz als Minimum, wer soll das aushalten? Kein Wunder, dass das Unwissen der jungen Generation mit dem Aufblähen einschlägiger Programmteile nur größer wurde. Was die Frage nahelegt: Ist es tatsächlich Unwissenheit, was da die befragten Twens ankreuzen, oder etwa Nichtwissenwollen?

Friedrich Torbergs Tante Jolesch hätte den Programmmachern sowieso taxfrei böse Absicht unterstellt. "Ausgerechnet ihr wollt nichts vom Geheimnis meiner Krautfleckerl wissen?", hätte sie mit dem Nudelwalker in der Hand gepoltert. Das Geheimnis ihrer Fleckerl: immer ein bisschen zu wenig angerührt.

Solche Kinkerlitzchen passen nicht zur Maschinerie deutscher Erinnerungskultur. Immer, wenn ein deutscher Abgeordneter in Jerusalem einfliegt - bei 709 an der Zahl also oft -, wird das Filmarchiv bemüht, die Reportage vom Trip mit Schreckensbildern aus der Massenmordkulisse zu unterfüttern. Bei Gegenbesuchen ihrer israelischen Kolleginnen und Kollegen detto. Da gerät leicht in Vergessenheit, dass die Schreckensbilder eben nicht Staffage, sondern brutale Realität waren.

Orgiastischer Höhepunkt am Holocaust-Gedenktag

So konnte nicht ausbleiben, dass der Auschwitz-Gedenktag am 27. Jänner 2019 wieder einmal zum orgiastischen Höhepunkt der Erinnerungskultur wurde. Bundes- und Landesredner beschworen die Mikrophone mit "Ja nicht vergessen" und Warnungen vor Neo-Nazis, so als ob in den Parallelstraßen schon die SA aufmarschieren würde. Dies unter dem Trommelwirbel der Medien, die etwa titelten: "So etwas darf nie wieder passieren" ("Die Zeit"), "AfD in Gedenkstätte unerwünscht" ("taz"), "Auschwitz hilft nicht, Auschwitz zu vergessen" ("Der Spiegel"), "Unsere Erinnerungskultur bröckelt" (ARD), "Lyrik zum Gedenken an den Holocaust" ("Der Volksfreund"), "Fluch von Auschwitz zum Segen werden lassen" (Interreligiöses Gedenken) oder "87-jährige Holocaustleugnerin muss ins Gefängnis" ("Süddeutsche Zeitung").

Komisch, als noch kein Fernsehbild in den Wohnstuben flimmerte, schon gar nicht täglich, hatte kaum jemand Bedenken, die Auswüchse des Rassenwahns könnten sich wiederholen, den Alt-Nazis würden Neo-Nazis nachwachsen. Antisemitismus kannten wir nur aus den Lehrbüchern. Wir hätten es wie Ivan Ivanji, 92-jähriger Überlebender des KZ Buchenwald, gehalten: "Hitler ist tot, und wir feiern." Nicht mehr und nicht weniger als eine Bilanz des Triumphs, ein Abhaken.

Freilich, ob das allein schon Erinnerungskultur ausmacht? "Der Spiegel" jedenfalls meint nein: "Wer völkisch denkt, stellt sich die Geschichte seines Landes gern als erhebende Abfolge heroischer Ereignisse vor (...) alles kunstvoll eingewobene Motive in einem einzigen Teppich, 1000 Jahre alt und prachtvoll. In diesem Teppich ist der Holocaust nicht einfach nur ein Fleck. Er ist ein Brandloch. Es ist nicht möglich, dieses Loch zu flicken oder zu verstecken (...) Auschwitz ist."

Kann diese Überzeugung die Zeit aufhalten, in der die Shoa zum historischen Datum werden könnte? Wird nicht auch sie von neuen Gräueln, neuen Massenmorden und neuen Genoziden überwuchert werden? Überbordende Erinnerungskultur konnte diesen Prozess jedenfalls nicht aufhalten, eher nur beschleunigen. Und wäre es nicht normal, wenn unbeteiligte Generationen damit umgingen wie mit Daten und Fakten zum Dreißigjährigen Krieg?