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Identitäre überall

Von Ralph Schöllhammer

Gastkommentare

Die Welt erlebt eine Renaissance religiöser und nationaler Empfindungen, wie man es seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr gesehen hat.


Wirtschaftlich gesehen waren die vergangenen 30 Jahre wahrscheinlich die erfolgreichsten in der Geschichte der Menschheit. Waren 1990 noch 36 Prozent von extremer Armut betroffen, so ist diese Zahl mittlerweile auf unter 15 Prozent abgesunken. Gleichzeitig haben auch mehr Menschen Zugang zu Wasser, Sanitäranlagen und medizinischer Grundversorgung. Auch im Einkommensbereich findet eine globale Verbesserung statt - zwar ist es richtig, dass das Einkommen der Reichen schneller wächst als jenes der Armen, es ist jedoch laut UNO unbestritten, dass auch im unteren Einkommensdrittel die Löhne weltweit ansteigen. Selbst im Bereich des Klimaschutzes gibt es zumindest Hoffnungsschimmer, da mit steigenden Einkommen in Ländern wie China und Indien der Umweltschutz immer mehr zum Thema wird.

Im Zuge dieser Entwicklungen trat jedoch noch etwas zum Vorschein, das die meisten Experten entweder übersehen oder bewusst ignoriert haben: Die Frage nach der Identität beschäftigt heute wesentlich mehr Menschen als noch vor 50 oder 100 Jahren. Die Hoffnung, dass materieller Wohlstand kulturelle und identitäre Unterschiede irrelevant machen würde, hat sich leider nicht bestätigt. Im Gegenteil: Die Welt erlebt im Moment eine Renaissance religiöser und nationaler Empfindungen, wie man es seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr gesehen hat.

Die Erfolge nationalistisch geprägter Bewegungen in Europa und den USA finden ihr Spiegelbild im neuen Hindu-Nationalismus Indiens, in Brasiliens Rechtsruck unter Jair Bolsonaro, im sozialistischen Nationalismus von Mexiko unter Lopez Obrador, in China unter Xi Jinping oder in Recep Tayyip Erdogans türkischem Islamo-Nationalismus.

Während in europäischen Feuilletons über das Ende des Nationalstaats diskutiert wird, beginnt ihn der Rest der Welt neu für sich zu entdecken. Selbst Saudi-Arabien hat unter seiner neuen Führung beschlossen, neben der religiösen Identität einen saudi-arabischen Nationalismus zu fördern, um sich besser von ebenfalls muslimischen Staaten wie der Türkei oder Ägypten unterscheiden zu können. China sieht sich mit einer beständig wachsenden christlichen Minderheit konfrontiert, die seit 1949 um fast 69 Million Menschen zugenommen hat. Um deren besonders in der neuen Mittelschicht ausgeprägten Einfluss einzudämmen, propagiert das Regime in Peking eine teilweise aggressive Form des Nationalismus, die ohnehin schon bestehende Konfliktherde in der Region weiter bestärkt.

Es scheint, dass mit dem Wachsen einer neuen globalen Mittelschicht die Frage der Identität immer wichtiger wird. Das Bedürfnis danach ist eine Realität, die im politischen Diskurs noch immer zu sehr vernachlässigt wird. Die verblüffenden Wahlerfolge der Populisten erscheinen weniger überraschend, wenn man erkennt, wie geschickt sie an nationale, religiöse oder ethnische Identitäten ihrer Wählerschichten appellieren. Diese Option bestünde jedoch auch für die moderaten Parteien, was gleichzeitig zu einer Entschärfung der identitären Frage beitragen könnte. Am Ende ist Identität zu wichtig, um sie Extremisten zu überlassen.

Ralph Schöllhammer ist Dozent für Internationale Beziehungen und Volkswirtschaftslehre an der Webster Universität Wien. Alle Beiträge dieser Rubrik unter: www.wienerzeitung.at/gastkommentare