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Europa - eine Gemeinschaft für die Zukunft

Von Christian Vranek

Gastkommentare

Die heurigen Jubiläen sollten nicht nur Anlass zur Freude, sondern auch zur Reflexion sein.


Das Schicksal meinte es gut mit mir, als ich 1971 gute 60 Kilometer westlich des Eisernen Vorhanges in Wien das Licht der Welt erblickte. Eine Kindheit und Jugend in Freiheit mit all den selbstverständlichen Reisemöglichkeiten. Als ich im Jahr 1989 meinen Präsenzdienst beim Österreichischen Bundesheer leistete, wurde mir in ganz anderer Dimension bewusst, was es heißt, in "so einer" Welt zu leben. Als Gardesoldaten waren wir unter anderem auch für die Grenzsicherung zuständig, und in den späten Monaten des Jahres 1989 wurde uns immer wieder ein jederzeit möglicher Grenzeinsatz signalisiert.

Die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei ersparte uns diesen Einsatz, und so konnten wir als Ehrenkompanie am Flughafen Wien, einige Wochen, nachdem wir den letzten Repräsentanten des alten Regimes empfangen hatten, ebendort nun den ersten Ministerpräsidenten einer mehrheitlich nicht kommunistischen Regierung seit 1948, der nun Tschechoslowakischen Föderativen Republik, mit militärischen Ehren willkommen heißen. So etwas bleibt in Erinnerung.

Allgemein bekannt sind ja die Bilder, als Alois Mock mit seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn am 27. Juni 1989, für Medien inszeniert, den Stacheldraht am Eisernen Vorhang gemeinsam durchtrennte, und ebenso jene Szenen, als sich an der österreich-ungarischen Grenze im Rahmen eines Paneuropa-Picknicks im August 1989 ein Grenztor ohne Intervention des ungarischen Militärs öffnete und DDR-Bürger diese Situation zur Flucht nach Österreich nutzten - und so ereigneten sich, um mit Stefan Zweig zu sprechen, "Sternstunden der Menschheit". Fernsehbilder mit hoher Symbolkraft gingen um die Welt. Sie zeigten Menschen, die alles hinter sich ließen, ohne Hab und Gut in die Freiheit flüchteten - und das mitten in Europa im Jahr 1989.

1989 stand der Weg nach Europa offen - und heute?

Bleiben uns solche Ereignisse nicht kollektiv in Erinnerung? Es folgten der Mauerfall in Berlin, die bereits erwähnte Samtene Revolution in der Tschechoslowakei und der Zerfall des Ostblocks. Der Weg in Richtung eines geeinten Europas stand offen und wurde auch von keiner der sogenannten Großmächte blockiert. Was haben diese Menschen erlebt? Was mussten jene, die flüchteten, vor ihrer Flucht ertragen? Welchen Wert hatte die Freiheit? Und haben wir davon in unsere Zeit etwas mitgenommen?

Hätten jene Menschen und wir selbst uns damals träumen lassen, dass 30 Jahre später auch in der "westlichen" Welt der fahrlässige Umgang mit der Natur und die Ausbeutung an Erdressourcen nicht nur klimatisch für zukünftige Generationen zur Hypothek werden kann? Dass scheinbar legal über Uhren, Handys, Tablets etc. völlig ungeniert Daten in Hülle und Fülle gesammelt werden und Menschen freiwillig die meiste Zeit ihres Lebens vor Bildschirmen verbringen und es gilt, digitale Medienkompetenz auch in Bezug auf die Wahrheit und den Gehalt der Inhalte zu entwickeln? Dass menschliche Werte wie Kreativität, Liebe, Respekt, Würde, Individualität, Verantwortlichkeit, Freiheit, welche für die Entfaltung und Erfüllung des Menschen essenziell sind, in einer zunehmend monotonisierten Welt einen schweren Stand haben? Dass die Quote vor Qualität und Inhalt in vielen Bereichen zum Maß aller Dinge wird? Dass Meinungsfreiheit selbst an Universitäten ebenso wie in Medien und in der Gesellschaft und Ethik ganz allgemein und somit auch die Qualität der Demokratie immer mehr unter Druck gerät und es vernehmbare Stimmen gibt, die Kleinstaatlichkeit und Abgrenzung einem geeinten Europa in einer globalisierten Welt vorziehen?

Europa-Bewusstsein über politische Grenzen hinweg

Es ist noch nicht abzusehen, ob Europa die unfassbaren Katastrophen des 20. Jahrhunderts, gezeichnet von barbarischem Menschenmord und ungemein großen humanen, geistigen und kulturellen Verlusten, auch aufgrund der aktuellen Entwicklungen überhaupt bewältigen wird können. Aber vor dem Hintergrund der zwei Weltkriege, des Holocaust, der Überwindung der Teilung Europas nach dem Krieg steht es uns gut an, die so erfreulichen Jubiläen in Europa nicht als eine Selbstverständlichkeit zu sehen, sondern als einen Auftrag, die Zukunft - und sei es nur um des Friedens willen und in der Verantwortung gegenüber der Jugend und kommender Generationen - gemeinsam und konstruktiv zu gestalten.

2019 feiern wir bereits 30 Jahre die Öffnung des Eisernen Vorhangs und 15 Jahre EU-Osterweiterung - ein mehr als gebührender Anlass zur Freude, aber auch zur Reflexion darüber, wie wir unsere Beziehungen zueinander verbessern und unser Europa-Bewusstsein über die politischen Grenzen hinweg stärken können. Die wirtschaftliche Dynamik und der steigende Wohlstand haben die politische Bedeutung, die kulturelle Verbundenheit, welche sich am stärksten auch in all seiner Differenziertheit in der Kunst, aber zum Beispiel auch in der Kulinarik manifestiert, den Austausch und die Begegnung und die so notwendige Solidarität und Empathie der Menschen zueinander in den Hintergrund gestellt.

Gemeinschaft mit wertvollen Unterschiedlichkeiten

Kaum stottert die Wirtschaft, kommen Krisen, stellt man Europa beziehungsweise die Europäische Union in Frage. Die europäische Gemeinschaft braucht mehr geistige Unterfütterung, eine viel stärkere kulturelle Bewusstheit und mediale Berichterstattung, die über Krisen- und Skandalberichterstattung weit hinausreicht. Das zukünftige Europa sollte sich als Gemeinschaft mit durchaus wertvollen Unterschiedlichkeiten und kulturellen Vielfalt sehen. Gleichmachung, welche im wirtschaftlichen Bereich durchaus sinnvolle Erleichterungen bringen kann, führt im menschlich-kulturellen Bereich zur Wüste - hier hat Europa ein so reiches wie schweres kulturelles Erbe, das durchaus Vorbild und Mahner für die Zukunft sein kann.

Gerade das Jahr 2019 und seine Jubiläen sollten motivieren, gemeinsam Visionen zu entwickeln und dort, wo sich erkennbare Defizite zeigen, diese auch mutig zu reformieren. Die EU-Wahlen im Mai bieten eine herausfordernde Möglichkeit, sich wider den Populismus diesen Herausforderungen zu stellen und konstruktive Vorschläge zu präsentieren, um Menschen und speziell die Jugend für das Projekt eines gemeinsamen Europa zu begeistern. Den Medien kommt hier eine mehr als verantwortungsvolle Aufgabe zu.

Das "Wie" (das Kernwort von Kultur), also der Umgang miteinander, sollte zum Schlüsselwort und Erkennungsmerkmal Europas werden, auch über die Europäischen Grenzen hinaus. Daran sollten wir arbeiten - durchaus im eigenen Interesse.