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Die Zukunft Europas

Von Reinhard Troper

Gastkommentare

Die mediale Berichterstattung über europäische Entwicklungen ist von den Meinungen und Vorschlägen der großen Staaten geprägt, die Stimmen der vielen kleinen Staaten werden in der Regel überhört.


Ende 2018 erschien ein dünnes Buch (127 Seiten) mit dem Titel "The Future of Europe - Views from the Capitals". Darin lieferten Autoren aus allen 28 EU-Staaten, aber auch aus Nicht-Mitgliedsländern Beiträge vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen für die EU (Brexit, zukünftiges Budget, weitere Integrationsschritte, etc.), um einen "bescheidenen Beitrag zur so notwendigen Zukunftsdebatte" zu leisten, wie es die Herausgeber formulierten. Gemeinsam ist allen Beiträgen ein analytischer Ansatz, woraus sich eine wohltuend unaufgeregte akademische Debatte ergibt. Umso erhellender ist die Lektüre, weil sie das breite Spektrum der Sichtweisen der wünschenswerten Entwicklungen widerspiegelt.

Die mediale Berichterstattung über europäische Entwicklungen ist von den Meinungen und Vorschlägen der großen Staaten geprägt, die Stimmen der vielen kleinen Staaten werden in der Regel überhört. Im vorliegenden Buch kommen auch diese zu Wort. Aus diesen Beiträgen lassen sich einige interessante Erkenntnisse ziehen, wobei die Entwicklung in den östlichen Mitgliedstaaten, in denen sich die Konsequenzen bisheriger europäischer Politiken zeigen, sowie die Sicht der Nicht-Mitgliedstaaten auf die EU besonders spannend sind.

  • Fehlender öffentlicher Diskurs

Generell wird der Mangel an nationalen EU-Strategien und einer aktiven Herangehensweise seitens der Mitgliedsländer beklagt. Eine fehlende Verbindung zwischen den nationalen Sorgen und den breiten EU-Themen ist charakteristisch für viele Mitgliedstaaten. Insofern ist es nur logisch, dass es fast nirgends einen öffentlichen, nationalen Diskurs über die Zukunft der EU gibt. Vielfach ist die EU ein "Nicht-Thema", außer man braucht gerade wieder einen Sündenbock. Zwar bemüht sich die EU-Kommission mit ihren "Bürgerdialogen" um eine solche Debatte, hat damit aber kaum nationale Resonanz gefunden. Die Finanz- und Wirtschaftskrise des Jahres 2008 stellt in fast allen Mitgliedstaaten eine entscheidende Zäsur in der Haltung der Bevölkerung zur europäischen Integration dar.

Allen Beiträgen gemeinsam ist der nationale Blickwinkel auf die EU. Kosten-Nutzen-Kalküle, wie wir sie aus der österreichischen Nettozahler-Diskussion kennen, bestimmen die Ansichten. (Einzig die deutsche Regierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag explizit bereit erklärt, zukünftig einen größeren Beitrag zum EU-Budget zu leisten.) Die Frage, was aus gesamteuropäischer Sicht die sinnvollste Entwicklung der EU wäre, wird allerdings in keinem der Beiträge gestellt.

  • Neue Allianzen und wirtschaftliche Macht

Mit dem Brexit und den kommenden EU-Wahlen werden die Allianzen in der EU neu gemischt. Konnten bisher eine Reihe von (kleineren) Mitgliedstaaten wie die Niederlande oder Dänemark im Windschatten des britischen Tankers gut segeln, müssen sie sich jetzt nach neuen Verbündeten umsehen. Dabei wird die wirtschaftliche Macht Deutschlands eine wesentliche Rolle spielen. So wollen sich zum Beispiel die beiden Nicht-Mitgliedsstaaten Norwegen und Island künftig primär um eine Zusammenarbeit mit Deutschland bemühen.

Bezüglich künftiger Allianzen und Entwicklungswege ist es erhellend, sich die wirtschaftlichen Machtverhältnisse in Erinnerung zu rufen: So beträgt der Anteil der Deutschlands und Frankreichs knapp 50 Prozent der Wirtschaftskraft der Eurozone. Der Anteil einer von Spanien vorgeschlagenen "Big 4"-Formation (Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien) liegt bei 75 Prozent. Die aktuellen französischen Reformvorschläge einer "EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten", mit einem deutsch-französischen Kern, stellen einerseits einen realpolitischen Ansatz zur Überwindung bestehender Differenzen und für die weitere Entwicklung dar, würden aber mit ihren zwischenstaatlichen Lösungen andererseits zu einer Schwächung der EU-Institutionen führen. So lautet jedenfalls das deutsche Gegenargument. Aus Luxemburger Sicht wäre freilich das Gegenteil der Fall: Während der Euro-Gruppenchef dem Rat - und somit den Regierungschefs - verantwortlich ist, wäre ein EU-Finanzminister (als Kommissionsmitglied) dem EU-Parlament verantwortlich, weshalb der Vorschlag abgelehnt wird.

Selbst in der Schweiz hat die reale wirtschaftliche Macht der EU nach dem negativen Referendum zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu einer Art Lernprozess geführt: Die nunmehr mit der EU ausverhandelte Regelung hat mit der Intention des Referendums nicht mehr viel zu tun. Wegen der Problematik der dynamischen Anpassung der bilateralen Verträge ist die Schweiz aber auch kein Vorbild für die zukünftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU. Mit dieser hegemonialen Rolle der EU mussten auch die Efta-Staaten leben lernen.

  • Kleinere Mitgliedstaaten

Fast alle kleineren Mitglieder der EU wollen unbedingt zum Kern der Union gehören. Beim Konzept einer "EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten" fürchten sie abgehängt zu werden. Gleichzeitig präferieren sie unisono Entscheidungen auf Ratsebene, weil hier eine gleiche Stimmengewichtung besteht. Einer Stärkung des EU-Parlaments stehen sie logischerweise (sehr) reserviert gegenüber, da dort ihr Einfluss wesentlich geringer ist.

Fast alle kleineren EU-Staaten sehen das (Körperschafts-)Steuersystem als einen ihrer wenigen Wettbewerbsvorteile, den sie keinesfalls aufgeben wollen. Wegen ihrer geringen administrativen Kapazitäten und somit mangelnden Know-hows ist ihnen die Expertise der EU-Kommission besonders wichtig.

  • Östliche Mitgliedstaaten

Die östlichen EU-Staaten waren lange Zeit eine Art Laboratorien für wirtschaftspolitische Strukturreformen der EU. Sie haben ihre Lektion gelernt: Profit vor (sozialen) Werten. Diese Erfahrung, dass die sozialen Kosten von Strukturreformen nicht berücksichtigt werden, wurde im Zuge der Krise zunächst auf die südlichen EU-Staaten übertragen, nun schlägt sie auch auf die alte Kernunion zurück. Da die Unfähigkeit zur Selbstkritik derzeit ein Kennzeichen der EU ist, wird dieser Zusammenhang nicht gesehen.

Die heutigen Problemkinder der EU, Polen und Ungarn, waren einst Musterschüler. Das erste Strukturhilfeprogramm der EU trug ihren Namen: PHARE = Poland and Hungary: Assistance for Restructuring their Economies. Sie sind auch die größten Nettoempfänger der EU-Kohäsionspolitik: Polen in absoluten Zahlen, Ungarn in Relation zum BIP. Der ungarische Premier Viktor Orbán - als Mehrheitsbeschaffer für die EVP - war der größte Nutznießer des bisherigen Kräfteverhältnisses der Fraktionen im EU-Parlament.

Heute leisten diese beiden Länder - wenn auch ungewollt - einen sehr positiven Beitrag zur EU-Zukunftsdebatte: Sie zwingen die Union zu einer Wertediskussion. Eine Aufnahme von politischen Kriterien in den europäischen Frühwarnmechanismus wäre eine logische Voraussetzung für die angedachte Verknüpfung der Einhaltung europäischer Werte (vor allem Solidarität) mit der Auszahlung von Kohäsionsgeldern. Ein Blick auf die Stellungnahmen der Visegrád-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) zeigt große Bruchlinien in diesem Block. Ähnliches gilt für die mehrfach angesprochene Nordische Allianz (inklusive Norwegen und Island), von der mediterranen Zusammenarbeit ganz zu schweigen.

Neben der Beziehung zur Türkei ist auch die Östliche Partnerschaft in einer tiefen Krise. Sicherheitsbedenken spielen dennoch nur in wenigen Staaten (etwa Finnland oder Litauen) eine explizite Rolle in der Europapolitik.

  • Bedenkliches Schweigen

Tragisch ist es auch zu sehen, wie hilflos die Europäische Union den (aktuellen) Protesten der Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten gegenübersteht. In Polen, Ungarn, oder Rumänien demonstrieren die Bürger - mit EU-Fahnen - für die Einhaltung beziehungsweise Wiederherstellung europäischer Werte. Und die EU schweigt - nur mangels Kompetenz?

Letztlich geben auch die in den Beiträgen nicht angesprochenen Themen für die Zukunft der EU zu denken: So wird ausschließlich im französischem Beitrag die Notwendigkeit einer "Säule der Sozialen Rechte", mit einem Plädoyer für eine europäische Arbeitslosenversicherung, angesprochen. Die Problematik der weltweit zunehmenden Ungleichheit in der Einkommens- und vor allem der Vermögensverteilung wird in keinem einzigen Beitrag thematisiert.

  • Geografie der Unzufriedenheit

Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund eines Ende 2018 von der Generaldirektion für Regional- und Städtepolitik veröffentlichen Arbeitspapier über die "Geografie der Unzufriedenheit mit der EU" bedenklich. Diese Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sechs territoriale Besonderheiten in engem Zusammenhang mit dem Erfolg EU-skeptischer Parteien stehen: geringe Beschäftigung, geringe Ausbildung, weniger städtisch, älter, geringeres relatives Wirtschaftswachstum und ein Rückgang der Industriebeschäftigung - also überwiegend soziale Faktoren. Dass die Beiträge zu den sozialen Aspekten der Integration schweigen, ist sicher kein gutes Omen für die EU-Wahlen.

Trotz - oder auch wegen - der aufgezeigten Widersprüchlichkeit ist die Lektüre des Büchleins dennoch zu empfehlen. Wobei aus den Widersprüchen kein Geheimnis gemacht wird. So resümieren die Herausgeber in ihrem Vorwort, dass der Mangel an nationaler, politischer "Ownership" einer der Schwachpunkte der europäischen Integration ist. Wenn demgegenüber der Präsident des EU-Parlaments, Antonio Tajani, in seinem Vorwort feststellt: "Europe is thinking hard about his future", dann kann man dies positiv als reines Wunschdenken oder negativ als Beispiel für die Brüsseler Blase deuten. Realistischerweise hat aber wahrscheinlich bloß sein Ghostwriter das Buch nicht gelesen - vielleicht, weil es auf Englisch verfasst ist. Ein Umstand, der leider auch die Rezeption in Österreich beeinträchtigen dürfte.

Natürlich kann das Buch keine Antwort auf die Frage nach der Zukunft Europas geben. Aber die Lektüre vermittelt eine realistische Ahnung, in welche Richtung es nach dem Brexit und der EU-Wahl gehen könnte. Falls einen dies interessiert.