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Die ÖVP braucht Mut zum Sowohl-als-auch

Von Karl Pangerl

Gastkommentare
Karl Pangerl ist Geograf und AHS-Lehrer in Oberösterreich. Alle Beiträge dieser Rubrik unter: www.wienerzeitung.at/gastkommentare
© privat

Für die Volkspartei ist es Zeit, zum Dialog zurückzukehren und zur Synthese von Alt und Neu, Schwarz und Türkis.


Wer Mitglied einer Partei wird, ist bereit, Individualität in eine Gemeinschaft einzubringen und zum Wohle aller zu teilen. Dies impliziert auf gemeinsamer demokratischer Wertebasis die aktive Teilnahme an der Weiterentwicklung von Partei und Gesellschaft im Dialog. Wenn der vormalige Salzburger Landeshauptmann-Stellvertreter Arno Gasteiger nunmehr aus der ÖVP ausgetreten ist, signalisiert dies, dass in dieser Gemeinschaft Risse aufgetreten sind. Risse, die im symbolhaft stilisierten Gegensatz von "Schwarz" und "Türkis" als Entfremdung politischer Generationen an die Öffentlichkeit dringen.

Die Flucht nach vorne aus mangelnder Kraft zur Erneuerung war die Tragödie der "alten ÖVP". Mit der abgenickten Neufassung zentripetaler Parteistatuten brach ein Grundkonflikt über das Verständnis von Gemeinschaft auf: Hier die "alte" ÖVP mit einem komplexen Wechsel- und Kräftespiel aus Bünden, Seilschaften und Mitgliedern; dort die "junge" ÖVP, die sich im Geist der Neuen Medien als "Community" versteht. Wer im Netzwerk dabei ist, ist drinnen, wer nicht, draußen.

Communities haben es an sich, dass ihre Kommunikation einem bestimmten Code folgt. Wer diesen nicht teilt, kann auch nicht an der internen Diskussion und Meinungsbildung teilnehmen. Die Parteiführung wird zur Echokammer, der "Bürger" zum "Follower". Umfragen und Information als selektive Einwegkommunikation treten an die Stelle der Entwicklung von Ideen und Standpunkten in kreativer oder auch dialektischer Auseinandersetzung.

Dieses Prinzip wird über die Partei hinaus dem digitalen Staat übergestülpt: Datensätze treten an die Stelle von Wahrheit als sozialem Prozess. Das Bild vom Menschen wird wichtiger als der Mensch selbst. Der Staat dient nicht mehr dem Menschen, er anonymisiert ihn als Nummer, unterwirft ihn seinem eigenen Zerrbild und den in dieses gesetzten, funktional definierten, standardisierten Erwartungen. Der Dialogbruch auf Parteiebene findet seine Spiegelung auf staatlicher Ebene: Der "Bürger" interagiert nicht mehr mit politischen Ideenträgern aus Fleisch und Blut, sondern mit Algorithmen.

Wie aber soll man mit Cyborgs diskutieren? Die Grundidee jedes Staates ist die der Gemeinschaft. Ein politisches Verständnis, das Hinterfragen durch Inszenierung ersetzt, Vielfalt durch Polarisierung und Interdependenz durch Instrumentalisierung, läuft Gefahr, jenen Gesellschaftsvertrag aufzukündigen, auf dem ein demokratisches staatliches Gemeinwesen nun einmal basiert, und stellt sich damit in letzter Konsequenz selbst zur Disposition. Dies nicht zu sehen, ist die Tragödie der "jungen ÖVP".

Anders als im Zielvakuum nach der Wende 1989/90 stehen die Herausforderungen heute mit Klimawandel, Artensterben und globaler Schicksalsgemeinschaft klar vor uns. Aufgaben, die wir alle nur gemeinsam lösen können. Es ist Zeit, zum Dialog zurückzukehren und zur Synthese von Alt und Neu, Schwarz und Türkis, Horizont und Dynamik. Die Wahlen zum EU-Parlament bieten die Chance, sich darauf zu besinnen, was wirklich wichtig ist, und für die Versöhnung im Sowohl-als-auch.