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Europa in der Krise?

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

Leid und Terror der Kriegszeit verblassen langsam. Dem Miteinander nach dem Krieg folgen nationalistische Tendenzen.


Ich möchte gerne sowohl in der österreichischen Politik als auch in der europäischen ein Optimist bleiben. Aber das ist derzeit gar nicht so einfach; ganz im Gegenteil. Es ist ziemlich schwer geworden.

Blicken wir kurz zurück: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - ich besuchte damals gerade die Volksschule - hatte wohl jeder in Österreich und in Europa genug von Krieg, Nationalismus und Faschismus. Viele Länder hatten schwere Kriegszerstörungen, Millionen Menschen waren im Krieg getötet worden, waren in Konzentrationslagern ermordet worden und auch die Überlebenden - viele davon an Körper und Seele schwer verwundet - befanden sich in weiten Teilen Europas in einer Stunde null.

Wie es den Österreichern trotz militärischer Besetzung durch die vier alliierten Mächte gelang, die staatliche Einheit zu bewahren und nach zehn Jahren durch den Staatsvertrag die volle Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu erlangen, ist ein eigenes Kapitel. Eine kluge gemeinsame Außenpolitik der beiden großen Parlamentsparteien spielte dabei eine wichtige Rolle. Auch der materielle und geistige Wiederaufbau des Landes wurde gemeinsam in Angriff genommen. Die Österreicherinnen und Österreicher hatten aus der Geschichte gelernt.

Die Erfahrungen der Geschichte manifestierten sich - in Ergänzung zur Rechts- und Verfassungslage - auch in ungeschriebenen Grundregeln, die man unter den Stichworten Sozialpartnerschaft, Zusammenarbeit und Rücksichtnahme auf gegenseitige Zumutbarkeit zusammenfassen kann. Ein breiter Bogen von Mitte rechts bis Mitte links bildete das Fundament politischer Stabilität in Österreich. Das galt sowohl für Koalitionszeiten als auch für Zeiten sogenannter "Alleinregierungen".

Römische Verträge von 1957

Eine weitere Grundtendenz der Politik im demokratischen Europa und auch in Österreich war das Bemühen einer Renaissance nationalistischer Tendenzen und nationaler Egoismen durch europäische Zusammenarbeit und durch gemeinsame europäische Institutionen vorzubeugen.

Die Pioniere dieser Entwicklung stammten aus Frankreich (Schuman und Monnet), aus Deutschland (Adenauer), aus Großbritannien (Churchill) und auch aus den Beneluxstaaten (z.B. Paul-Henri Spaak). Genau diese sechs Staaten waren es auch, die am 25. März 1957 in Rom die Verträge von Rom als Geburtsurkunde des Europäischen Integrationsprozesses unterzeichneten.

Eine "immer engere Zusammenarbeit" der Mitgliedstaaten war das Ziel des Europäischen Integrationsprozesses, der durch Erweiterung (neue Mitgliedstaaten) und Vertiefung (Intensivierung der Zusammenarbeit) vorangetrieben werden sollte.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs konnten auch Österreich, Schweden und Finnland mit 1. Jänner 1995 der EU beitreten, wobei die österreichische Bevölkerung in einer Volksabstimmung dem Beitritt mit Zweidrittelmehrheit zugestimmt hatte.

In der Zwischenzeit ist die EU auf 28 Mitgliedstaaten angewachsen, befindet sich aber mehr und mehr in einer krisenhaften und schwierigen Situation.

Es ist nicht nur der leichtfertig und verantwortungslos herbeigeführte Brexit, es sind nicht nur die Nachwirkungen der Wirtschaftskrise, es ist nicht nur die (oft unfair übertriebene) Schwerfälligkeit der Bürokratie in Brüssel oder die fundamental veränderte und sprunghafte Politik des Präsidenten der USA, die an dieser Entwicklung schuld sind.

Die Probleme reichen tiefer.

Nationalistische Egoismen

Ein sehr wichtiger Faktor ist meines Erachtens ein Wiedererstarken nationalistischer Kräfte und nationalistischer Egoismen, die schon im 19. und 20. Jahrhundert so viel Unheil angerichtet haben. Manche werden nervös und protestieren, wenn unheilvolle Konsequenzen eines überspitzten Nationalismus aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts warnend in Erinnerung gerufen werden. Und auch ich bin der Meinung, dass die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts keine Reprise der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts sein werden. Die weltpolitischen Rahmenbedingungen haben sich stark verändert und die Geschichte wiederholt sich nicht schematisch.

Aber eines ist für mich ziemlich klar: Die Menschen haben zwar aus einer unheilvollen Geschichte im 20. Jahrhundert gelernt; erfreulich viel gelernt. Aber der Beginn des Zweiten Weltkrieges liegt heuer schon 80 Jahre zurück und auch die Verbrechen der anschließenden Jahre mehr als sieben Jahrzehnte.

Wer 1938 zehn Jahre alt war, ist heute über 90. Wer sich 1945 als 17-Jähriger über das Ende des Krieges freuen konnte, ist heute ebenfalls über 90. Ich darf es wiederholen: Niemand kann behaupten, die Zweite Republik Österreich habe aus der Geschichte nichts gelernt - ganz im Gegenteil. Aber jetzt werden die Lehren aus der Geschichte langsam schwächer und beginnen zu verblassen. Damit wird Raum frei für eine Stärkung nationalistischer Tendenzen und nationaler Egoismen, einschließlich Fremdenfeindlichkeit.

So manche Schlagzeile, so manche Redewendung gegenüber Menschen mit sogenanntem "Migrationshintergrund", so manches unakzeptable Ministerwort wäre vor 20 oder 30 Jahren in dieser Form kaum vorstellbar gewesen. Zum Beispiel auch nicht der Satz, dass nicht die Politik dem Recht zu folgen habe, sondern das Recht der Politik.

Unter denen, die diesen Ausspruch verteidigen, kann niemand so naiv sein, dass er ernsthaft glaubt, es geht um die harmlose Frage, ob das Parlament ein Gesetz ändern darf oder nicht.

Politik und Recht

Jeder weiß, dass am Beginn der Demokratie im 19. Jahrhundert der Kampf zwischen Macht/Politik und Recht/Gesetz stand; der Kampf um die Bindung der Macht (insbesondere der Regierungsmacht) an Recht und Gesetz. Dementsprechend besteht der Weg zur Diktatur auch darin, sich von der Bindung an das Recht zu lösen. Auf diesem Gebiet darf es keine Unklarheit geben.

Die geschilderte Problematik ist natürlich nicht auf Österreich beschränkt. Sie existiert auch auf der europäischen Bühne. Die EU ist auf (derzeit noch) 28 Mitgliedstaaten angewachsen. Der Brexit wird sie schwächen, aber nicht in ihren Grundfesten erschüttern. Was die EU mehr bedroht, ist die Gefahr, dass das Gefühl der "European Identity" schwächer wird und uns schrittweise abhandenkommt. Genau in jenem Ausmaß, in dem nationale Egoismen stärker werden, wird die European Identity schwächer und auch die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten wieder höher und deutlicher. Niemand käme auf die Idee, einer Mutter, die in Vorarlberg arbeitet, die Kinderbeihilfe zu kürzen, weil ihre Kinder im Burgenland leben, wo die Lebenshaltungskosten niedriger sind. Genau das soll aber geschehen, wenn die Mutter im Burgenland arbeitet und die Kinder in Bratislava leben, obwohl man damit das Risiko eines Verstoßes gegen europäisches Recht in Kauf nimmt.

Gleichbehandlung von Kindern

Manche werden sagen: Man kann doch das Verhältnis zwischen Burgenland und Vorarlberg nicht mit dem Verhältnis zwischen Bratislava und Burgenland vergleichen. Natürlich kann man das nicht auf allen Gebieten vergleichen, aber sehr wohl, wenn es um die Gleichbehandlung von Kindern und außerdem um die Verringerung ökonomischer Ungleichgewichte in Europa geht - ein viel beschworenes und in den Europäischen Verträgen festgeschriebenes Ziel der europäischen Integration. Diesem Ziel wird immer stärker nationaler Egoismus (mit populistischem Rückenwind) entgegengestellt.

Auch die Art, wie manche europäische Länder heute die Flüchtlingsfrage behandeln, würde von Churchill, Schuman, Kreisky, Kohl und Co sehr schlechte Noten bekommen.

Jawohl, Europa kann nicht "alle Flüchtlinge" aufnehmen, aber das fordert auch niemand.

Jawohl, Flüchtlinge müssen registriert werden und europäische Spielregeln akzeptieren.

Jawohl, dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung muss selbstverständlich Rechnung getragen werden.

Aber die Absurdität der derzeitigen Situation besteht meines Erachtens ja darin, dass manche nahezu alles tun, um Unsicherheitsgefühle zu stärken und im gleichen Atemzug das Gefühl der Unsicherheit beklagen und politisch ausschlachten. Erfolgreiche Integrationsprozesse werden abgebrochen, junge Menschen, die eine Lehrstelle gefunden haben, abgeschoben und gleichzeitig wird mangelnde Integration beklagt. Und der nächste Schritt besteht darin, Menschenrechte als unnötiges und hinderliches Beiwerk zu bezeichnen.

Die nächsten Generationen werden diesbezüglich viele Fragen an ihre Eltern und Großeltern zu stellen haben und auch stellen.

Verhältnis zu Nachbarstaaten

Ich finde auch, dass Europa um ein besseres Verhältnis zu seinen Nachbarregionen bemüht sein müsste. Ich bin mit der Politik des türkischen Präsidenten Erdogan und mit der Menschenrechtssituation in der Türkei absolut nicht einverstanden. Klare, sachliche und deutliche Kritik ist ein Gebot der Stunde; aber "die Türken" sind nicht pauschal unsere Feinde und ich war stolz auf unseren Verfassungsgerichtshof, als er eine Praxis als verfassungswidrig unterbunden hat, die darauf abzielte, jedem österreichischen Staatsbürger, der aus der Türkei stammt oder türkische Vorfahren hat und auf einer anonymen türkischen Liste - einer angeblichen Wählerliste - stand, die österreichische Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Ich denke auch, dass Europa sein Verhältnis zu Russland so sorgfältig und balanciert wie möglich analysieren sollte. Grund zu Misstrauen, Anlass für Vorwürfe gibt es nicht nur auf einer Seite. Und auch Sicherheitsbedürfnisse gibt es auf beiden Seiten. Wenn ich daran denke, wie elektrisiert die USA seinerzeit reagierten, als sich die Sowjetunion anschickte, Raketen nach Kuba, also in die Nähe der Grenze der USA zu schicken, dann muss man angesichts der Regionen, wo heute Raketen der Nato stationiert sind, bereit sein, sich auch in die Gedankenwelt russischer Politiker zu versetzen. Das rechtfertigt meines Erachtens nicht die Annexion der Krim, aber es rechtfertigt sehr wohl eine Politik, die nach vorne schaut, die um Vertrauensbildung bemüht ist, Sanktionen nicht als Allheilmittel betrachtet und geschlossene Verträge (wie den Atomvertrag mit dem Iran) einhält, um nicht das Vertrauen in Verträge kaputt zu machen.

Insgesamt wage ich immer noch zu hoffen, dass eine rationale Politik dieser oder ähnlicher Art möglich ist, weil ein weiteres Anwachsen nationalistischer und autoritärer Tendenzen Europa neuerlich in eine schwere Krise führen könnte. Und das muss verhindert werden.