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Wohin steuert die Europäische Union?

Von Andreas Raffeiner

Gastkommentare
Andreas Raffeiner lebt als Historiker, Autor, Herausgeber und Rezensent in Bozen.
© privat

Der Staatenbund braucht Reformen und einen neuen Platz in der Welt.


Der Philosoph Immanuel Kant (1725 bis 1804) hat die Devise der Aufklärung geprägt: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Diesen Verstand gilt es einzusetzen, um die Europäische Union zu überdenken, zu reformieren und ihr einen neuen Platz in der Weltgemeinschaft zu geben. Europa, das nie ein Zentralstaat sein kann, lebt aus der kulturellen Vielfalt. Das ist die eine Säule. Die andere Säule ist der Wettbewerb. Dieser kann als Bürge für Freiheit und Verantwortung angesehen werden. Es ist kein Zufall, dass beides in der EU abgebaut wird. Die EU ist ein Paradoxon. Das unter dem Motto "Einheit durch Vielfalt" selbst definierte Staatenbündnis ist eine institutionalisierte Auflösung der Vielfalt Europas und vertritt dessen Zentralisierung und Gleichschaltung.

Bezüglich Währungen hat Europa den Wettbewerb abgebaut. Als es noch einen Währungswettbewerb gab, war jedes Land nur für seine eigene Währung verantwortlich; sie war ein Synonym für die Leistungsquittung der eigenen Nation. Ging es mit der Währung bergab, wusste jeder: In diesem Land wurde schlechte Politik gemacht. Diese erfuhr ihre Rechnung in der Annäherung an den Staatsbankrott, der mit der Abwertung der jeweiligen Währung gestoppt werden konnte. Wenn eine Volkswirtschaft, die solide arbeitet, dieselbe Währung wie ein fast bankrottes Land hat, verkommt das Ganze immer mehr zur Farce. Nicht umsonst haben die EU-Gründungsväter die kollektive Währungspolitik nicht berührt. Geldabwertung war einst ein Warnsignal und ist heute ein Abgrund für alle, die dieselbe Währung haben.

Die EU schmückt sich mit fremden Federn. Es heißt, wir würden ihr den Frieden in Europa verdanken. Das ist nur bedingt richtig. Es war auch die Erfahrung der Menschen aus zwei sinnlosen Weltkriegen, die nur Elend, Verderben und Not brachten, die zum Frieden geführt hat. Dazu braucht man keine EU, da genügt der Verstand. Dafür wird etwas verschwiegen: Wo war die EU bei den Befreiungsbewegungen? Die Apathie war groß, als sich Portugal von der Diktatur befreite, Michail Gorbatschow anlässlich der Perestroika in der UdSSR um Unterstützung bat, Polen den Weg der Solidarnosc beschritt und in Ostdeutschland die Menschen in Montagsdemos gegen die kommunistische SED-Diktatur friedlich auf die Straße gingen. Auch zu Katalonien hüllte sich die EU in Schweigen. Sie hat keine einzige dieser Befreiungsbewegungen unterstützt.

Und die EU kann keine echte Demokratie werden, weil es keinen identischen Souverän geben kann. In der Demokratie lebt das Volk in seinen Traditionen, Staaten, Organisationen und Institutionen. Vielfalt und Wettbewerb müssen auch in der Politik Platz haben. Ähnlich verhält es sich mit dem Gebrauch des eigenen Verstandes. Und wie sieht es in Bezug auf eine einheitliche Corona-Politik aus? Die Antwort auf diese mehr als nur berechtigte Frage kann der Schlüssel sein.