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Der Streit um Christlich-sozial ist müßig

Von Claus Reitan

Gastkommentare

Es ist in diesen Tagen angesagt, an die katholische Soziallehre mitsamt ihren historischen Enzykliken zu erinnern. Je nach Standpunkt wird dies für oder gegen die Politik der gegenwärtigen Bundesregierung in Stellung gebracht. Aus linkskatholischer Sicht etwa durch Gerfried Sperl ("Wiener Zeitung" vom 16./17. Februar: "Die Entkoppelung von ‚christlich‘ und ‚sozial‘") oder ihn korrigierend durch Martin Rhonheimer ("Wiener Zeitung" vom 2./3. März: "Welche Politik sozial ist, kann nicht die Bibel entscheiden"). Beide verdienstvolle Einlassungen bedürfen der Ergänzung, verfehlen sie es mit dem festen Blick auf längst Erledigtes doch, das Ganze in seiner Gegenwart zu erfassen, sprich: die Schöpfung, namentlich den Zustand dieser Welt und wie wir dazu stehen.

"Über die Sorge für das gemeinsame Haus"

Die Handreichung dazu liegt vor, gegeben in Form der Enzyklika "Laudato si‘" von Papst Franziskus im Jahr 2015, dem dritten seines Pontifikats. Das Lehrschreiben mit dem Untertitel "Über die Sorge für das gemeinsame Haus" wird gerne als Umweltenzyklika bezeichnet, womit man der guten Sache Unrecht erweist und der falschen Vorschub leistet. Es ist wahrlich müßig und vergeblich, in weiteren Darlegungen die Sozialenzykliken von "Rerum novarum" (1891) bis "Centesimus annus" (1991) zu deklinieren. Es ist hingegen dringend, und zwar äußerst dringend geboten, die Gedanken aus "Laudato si‘" stets auf Neue aufzugreifen und zur Richtschnur dafür zu nehmen, auf Basis welcher Philosophie oder Religion (als Theorie) dann durch Politik (als dazugehörige Praxis) Lebensumstände geschaffen, zugelassen oder geändert werden. Und hier ist viel zu tun, beginnend mit der Herstellung ungeteilter Einsichten.

Die Erde, schreibt Franziskus in seinem vielfach zitierten Wort, "unser Haus, scheint sich immer mehr in eine unermessliche Mülldeponie zu verwandeln". Diese ist Folge einer "Wegwerfkultur", die "sowohl die ausgeschlossenen Menschen betrifft als auch die Dinge, die sich rasch in Abfall verwandeln". Die Wahrheit dieses Satzes ist aber jenen nicht zugänglich, die von dieser Welt lediglich die wohltemperierten Büros, helle Einkaufstraßen und sonnige Urlaubsstrände kennen, respektive kennen wollen.

Der große, von Franziskus gemeinte Rest der Welt ist eine Wirklichkeit, die in den Dokumenten und in den Expertisen zur seriös gemeinten Nachhaltigkeit umfassend, detailliert und tausendfach dargestellt ist. Der enorme Raubbau an menschlichen und an natürlichen Ressourcen erfordert eine Korrektur einer bloß von Umsatzrendite getriebenen Produktions- und Konsumweise. Globalisierung und Digitalisierung haben den Kapitalismus vollends ins Groteske beschleunigt.

Dieser Kapitalismus gilt übrigens einigen Autoren, auch Rhonheimer, als Urheber des Massenwohlstandes. Das ist ein in seiner Unvollständigkeit irreführender Befund: Die Leistungen von Wissenschaft und Wirtschaft als Grundlage für westlichen Wohlstand könne es nicht ungeschehen machen, dass dieser Lebensstandard guten Teils auf Völkermord, Ausbeutung und Sklaverei beruht. Es ist zudem ein gängiger Kalauer, dass wir mehr als einen Planeten Erde benötigen würden, um den vollklimatisierten Lebensstandard der Wohlhabenden allen bald zehn Milliarden Menschen zu sichern.

Jegliche politische Herausforderung stellt sich heute mit den Themen Demografie, Klimawandel, Ungleichheit, Migration, Ressourceneinsatz und Demokratie. Auf dem von diesen Einsichten getränkten Boden entstanden etwa die Leitlinien für eine gedeihliche, nachhaltige Entwicklung der gesamten Menschheit, die Sustainable Development Goals (SDGs), von allen UN-Staaten 2015 einstimmig beschlossen. Auf diesem Boden wächst seit 1999 der United Nations Global Compact, eine Selbstverpflichtung von Unternehmen, um die Globalisierung ökologisch und sozial zu gestalten.

Ökosoziale Marktwirtschaft,das meint Nachhaltigkeit

Globale Netzwerke, nationale sowie der europäische Gesetzgeber haben längst und mehrfach etwa mit Sozial- und Umweltrecht Regulative geschaffen, die ein gutes Leben für alle gewährleisten sollen. Es bedarf der Balance aus ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekten des Wirtschaftens. Darauf stellt das Konzept der Ökosozialen Marktwirtschaft ab, das meint Nachhaltigkeit. Und diese nennt Franziskus, stellt er doch letztlich den Menschen in den Mittelpunkt von "Laudato si‘". Diese Enzyklika ist also mehr als lediglich eine Umweltenzyklika, sie erfüllt ein Gebot der Stunde, vereint sie doch alles zu einer Betrachtung dieser Welt mit ihrer Wegwerfkultur, die auch den Menschen mitreißt. Wer heute nichts produziert oder konsumiert, wird nicht gebraucht und endet in der Lagerhaltung der Überflüssigen, um Ilija Trojanow zu bemühen.

In einem ist Rhonheimer zuzustimmen: Es wäre tatsächlich "am besten, auf verstaubte Bezeichnungen wie ‚christlich-sozial‘ als politisches Qualitätsmerkmal zu verzichten, denn es wurde schon immer missbrauch und schafft nur Verwirrung". Das ist trefflich und zu ergänzen: "Laudato si‘" schafft Klarheit. Andere Texte verzetteln sich in der Geschichte, um diese mitsamt der Bibel für oder gegen jemanden in Stellung zu bringen und Erledigtes abzuhandeln. In Tat und Wahrheit geht es längst um das Ganze