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Der Hang der Briten zu dramatischen Trennungen

Von Gerfried Sperl

Gastkommentare

Der britische Historiker David Starkey, der an der London School of Economics lehrte, hat den Bruch zwischen London und Rom im 16. Jahrhundert als "ersten Brexit" bezeichnet. Jetzt findet der zweite statt - zwischen London und Brüssel. Es wird auch formal und juristisch wieder "die Briten" und "die Europäer" geben.

Sollte die Europäische Union die nächsten Jahrzehnte überstehen, wird die größte Auswirkung des Brexit darin bestehen, dass sich kein anderes Mitglied eine Abspaltung zutraut. Denn neben den wirtschaftlichen Konflikten birgt der Brexit einen Sprengstoff, der vor allem auf dem Kontinent kaum beachtet wird: die Fragen der Leitwerte, der Entscheidungsgewalt und der künftigen Allianzen.

Solange die EU als EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) firmierte, zeichnete die wirtschafts- und geldpolitische Konstellation den Weg vor. Das änderte sich, als soziale Fragen begannen, eine Rolle zu spielen - besonders massiv, als Margaret Thatcher in den 1980er Jahren die Gewerkschaften entmachtete und der bisherige arbeitspolitische Grundkonsens zerfiel.

"Es geht um Identität undmehr Selbstbestimmung"

In der "Süddeutschen Zeitung" wurde Ende März die gebürtige Bayerin Gisela Stuart, die 20 Jahre für Labour im Unterhaus saß, gefragt: "Halten Sie den Austritt immer noch für eine gute Idee?" Stuart darauf: "Diese Frage wird mir immer nur aus Deutschland gestellt." Die Deutschen würden die Gründe für den Brexit nicht verstehen: "Sie begreifen nicht, dass es nicht nur um wirtschaftlichen Konsens geht, sondern auch um Identität und mehr Selbstbestimmung."

Tatsächlich fühlten die Briten sich immer schon von den Mächten des Kontinents bevormundet. Man muss nicht ganz zurück bis zu den Römern gehen. Bis heute wirken die Gründung der Anglikanischen Staatskirche und der damit verbundene Bruch mit dem Papst in Rom in den 1520er Jahren unter Heinrich VIII. bis in die Herzen und Seelen nach.

Heinrichs sechs Ehen sind nur die Oberfläche, die Boulevardgeschichte. Dahinter ranken sich Fragen, die bis ins 21. Jahrhundert wichtig geblieben sind. Wer entscheidet in der europäischen Christenheit: der Vatikan, der Gerichtshof für Menschenrechte des Europarats oder der Erzbischof von Canterbury? Wer klärt letztendlich entscheidende rechtliche Fragen: die Häuser des Parlaments in London oder der Europäische Gerichtshof? Das Vereinigte Königreich wird - so sind die jüngsten Beschlüsse zu deuten - von den Volksvertretern regiert, die kontinentalen Staaten immer mehr von den Verfassungsgerichten. Schließlich: Wo ist das Zentrum der Finanzpolitik: in London oder in Frankfurt?

Die Briten möchten nicht die Nummer drei in der EU sein

Jochen Buchsteiner, Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in London, hat sein 2018 erschienenes Brexit-Buch folgerichtig "Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie" betitelt. Den Briten schwimmen die letzten Schaffelle davon, also wollten sie die Reißleine ziehen. Trotz des massiven Drucks der Rechtspopulisten zum Erhalt der Nationalstaaten wird die Utopie einer Art "Vereinigte Staaten von Europa" Stück für Stück verwirklicht werden. Die wachsende Konkurrenz zwischen den USA, Russland und China zwingt den Kontinent dazu. Die Briten möchten in dieser Konstellation jedoch nicht die Nummer drei neben Deutschland und Frankreich sein. Als Klammer reicht ihnen die Nato.

Britische Anläufe, dem Kontinent den Willen der Inselpolitik aufzuzwingen, sind mehrmals gescheitert. Die zwei wichtigsten: 1992 trat Großbritannien nicht dem Euro bei, das Pfund blieb Währung und Symbol der Unabhängigkeit. Und im Frühjahr 2003 machte der damalige Premier Tony Blair im dritten Golfkrieg gemeinsame Sache mit US-Präsident George W. Bush - gegen das französisch-deutsche Bündnis und die EU. Gekittet wurde das Verhältnis nicht mehr.

Dazu kamen die fast jährlichen Streitigkeiten um die britischen Beiträge zum EU-Budget. Auch dafür gibt es historische Konfliktbelege. Schon unter den Tudor-Königen verlangte der Papst in Rom von London hohe Steuerleistungen. Schon in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts führte der Kirchenreformer und Vatikan-Gegner John Wycliff mit Unterbrechungen zweijährige Verhandlungen in Brügge mit dem Ziel einer Herabsetzung, teils sogar einer Aussetzung der Zahlungen an den Papst. Die Pressionen Margaret Thatchers in den 1980ern erinnerten daran. Thatcher drohte mit dem EU-Austritt, Wycliff mit dem Verlassen der Kirche von Rom. Der Preis, den London zu zahlen bereit war, sollte immer weit niedriger sein als die Handels- und Freiheitsvorteile.

Freihandel mit den USA,weit geöffnete Tore für China

Der Brexit wird passieren, Großbritannien wird im Straßenverkehr weiterhin links fahren, (Kontinental-)Europa rechts. In den Londoner Flughäfen wird es neue Passkontrollen geben. Die neuen Allianzen aber werden von den Reisenden kaum bemerkt werden.

Was jetzt schon vorbereitet wird, sind bilaterale Handelsverträge mit den USA. Die irischen Bevorzugungen für die großen US-Internetkonzerne werden sich auf Großbritannien ausdehnen. Gleichzeitig werden sogenannte gentechnische Fortschritte in der Landwirtschaft auf den britischen Inseln praktiziert werden. Sowohl in den Biowissenschaften als auch bei Big Data wird man sich nicht mehr von der EU regulieren lassen - und damit auch die Tore zu China weit öffnen.

Boris Johnson, ehemaliger Londoner Bürgermeister und kurzzeitig britischer Außenminister, hat in einem Plädoyer für den Brexit die britische Utopie so formuliert: "Von den 193 gegenwärtigen UN-Mitgliedern haben wir 171 einmal erobert oder zumindest überfallen. Die einzigen Länder, die scheinbar davongekommen sind, sind Orte wie der Vatikan oder Andorra. In der Periode zwischen 1750 und 1865 waren wir bei weitem das politisch und wirtschaftlich mächtigste Land der Erde." Wenn solche Phasen wiederkehrten, wären sie nur nach einem Brexit möglich.

Großbritannien kehrt bestenfalls dorthin zurück, wo es 1951 stand, als Premierminister Winston Churchill zu Konrad Adenauer in der Downing Street sagte: "Sie können beruhigt sein, Herr Bundeskanzler, Großbritannien wird immer an der Seite Europas stehen."

Neben den wirtschaftlichen Konflikten birgt der Brexit einen Sprengstoff,
der vor allem auf dem Kontinent kaum beachtet wird.

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