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Die Prominenten von Dachau

Von Fritz Rubin-Bittmann

Gastkommentare
Häftlinge im KZ Dachau (1938).
© CC/Bundesarchiv/Friedrich Franz Bauer

Erinnerungen an den Prominententransport ins KZ im April 1938.


Zum jüngsten Artikel über den Prominententransport nach Dachau am 1./2. April 1938 darf ich einige persönliche Bemerkungen machen. Ich habe mehrere "Häftlinge" dieses Transportes, die Dachau, Buchenwald und andere Konzentrationslager und Vernichtungsstätten der Nationalsozialisten überlebt haben, persönlich gekannt. Meine verstorbenen Eltern Sidonie und Josef Rubin-Bittmann, die in Wien als Juden versteckt waren - als "U-Boote" -, waren mit diesen Menschen befreundet beziehungsweise in engem Kontakt. "U-Boote" nannte man jene Juden, die versuchten, sich dem Zugriff der NS-Vernichtungsmaschinerie zu entziehen; meist vergeblich - von den mehr als 3000 "U-Booten" erlebten nur 80 in Wien die Befreiung vom Nazi-Regime durch die Rote Armee.

Einer davon war der Rechtsanwalt Emil Maurer, Sozialdemokrat und Jude, Opfer des Prominententransportes und nach dem Zweiten Weltkrieg Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) während eines Jahrzehnts. Er war in der IKG Wien ein politischer Gegner meines verstorbenen Vaters. Er vertrat den Bund werktätiger Juden mit damals 17 Mandataren - mein Vater war Repräsentant des Zionistischen Blocks mit 4 Mandaten; es gab Auseinandersetzungen, die bis in die Morgenstunden dauerten. Dennoch waren beide einander menschlich zutiefst verbunden.

Ein Wohlstandsbauch als Kompensation für das KZ-Leid

Bei meiner Bar-Mitzvah-Feier (im Judentum wird der 13. Geburtstag eines Burschen in der Synagoge feierlich begangen), nach meiner Lesung aus einem Abschnitt der Torah und einer Lesung des Propheten Jesajah, gab es ein Abendmahl, zu dem auch Maurer kam. Er war ein gewichtiger Mann mit einem großen Bauchumfang, und als er versuchte, sich auf einer Bank zum Tisch vorzubeugen, bemerkte ich: "Herr Präsident, es wäre besser, wenn Sie auf einem Sessel und nicht auf einer Bank Platz nehmen würden, weil Sie dadurch weniger durch Ihren Bauch behindert würden!" Maurer lachte und meinte: "Fritz, in diesem Bauch steckt ein riesiges Vermögen."

Ich kannte aus den Erzählungen Maurers und anderer Mitglieder dieses Prominententransportes Berichte über schwere Misshandlungen während der Zugfahrt vom Westbahnhof ins Konzentrationslager Dachau. Der Transport war besonders für Juden bereits ein Martyrium, denn die österreichischen Bewacher hatten Spaß daran, die "Häftlinge" dadurch zu quälen, dass diese nicht aufs Klosett gehen durften, und sie ihnen derb sagten, sie sollten "in die Hosen sch . . .".

Maurer war zwei Jahre KZ-Häftling gewesen - durch Hungerrationen hatte er in diversen KZ bis zu seiner Freilassung stark abgenommen. Meine Mutter meinte, dass er nach seiner Freilassung dieses quälende Hungerleiden durch üppiges Essen kompensiert habe. Diese Reaktion war wahrscheinlich ein Versuch, psychisch die KZ-Leiden selbst zu therapieren.

"Am grausamsten waren die österreichischen SSler"

Im Konzentrationslager Dachau wurde des Öfteren den "Häftlingen", die schwer misshandelt wurden, erklärt: "Ihr seid ja in keinem Sanatorium." Die jüdischen KZ-Insassen wurden wesentlich schlechter behandelt als die "politischen Häftlinge".

Ich kannte auch zwei der Brüder Burstyn - sechs Familienmitglieder waren in diesem Transport: drei Brüder und deren Cousins. Fünf Burstyns überlebten die KZ und anschließende Misshandlungen in der Sowjetunion. Einer der drei Cousins wurde in Auschwitz ermordet. Heinrich Burstyn hatte überlebt und war in Wien ein erfolgreicher Kaufmann; er war ein Anhänger Vladimir Jabotinskys, der die Jugendorganisation "Betar" gegründet hatte und der geistige Vater der "Heruth" war. Er war ein sehr geselliger Mann und meinte über seine Zeit im KZ nur: "Kein Tier kann so grausam sein wie der Mensch. Am grausamsten waren die österreichischen SSler." Auch er durfte während des Transportes nicht aufs Klo.

Ein weiterer Bruder, der überlebt hatte, war Hotelier in Tel Aviv; er hatte in der Nähe des Strandes ein gutbesuchtes Hotel - sehr viele Wiener Juden, die nach Israel reisten, stiegen bei ihm ab. Trotz aller Demütigungen, fürchterlichen Erlebnisse und schwersten Misshandlungen während der NS-Zeit hatte er Sehnsucht nach Wien: "Jetzt ist Israel meine Heimat, und ich lebe hier frei als Jude. In Wien hatte ich viele christliche Freunde und Bekannte, die mich nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten nicht grüßten, und keiner half mir in meiner Notsituation. Dennoch ist für mich Wien ein wichtiger Teil meines Lebens, und ich habe diese Stadt, als wir noch nicht von Nationalsozialisten verfolgt wurden, sehr geliebt." Gelegentlich fügte er hinzu, wenn er nach Wien reiste: "On reviens toujours à son premier amour." ("Es zieht einen immer wieder zur ersten Liebe zurück.")

Ein politisches Gespräch mit Leopold Figl am Semmering

Bei einem Spaziergang am Semmering wurde ich einmal Zeuge eines Gesprächs zwischen Leopold Figl und meinem inzwischen verstorbenen Vater, den er bat, als Nationalrat für die ÖVP auf einem listensicheren Platz zu kandidieren: "Bittmann, du bist bekannt als aufrechter, mutiger Mann mit Durchschlagskraft und sehr erfolgreich. Als Menschen, die unter Hitler anderen Verfolgten geholfen und das Leben gerettet haben, haben du und deine Gattin das eigene Leben riskiert. Wir brauchen dich als jüdischen Repräsentanten und als Menschen mit Zivilcourage." Mein Vater bedankte sich sehr für diese Worte und das ehrenvolle Ansinnen, lehnte aber ab: "Ich bin Jude und vertrete nur jüdische Interessen in Österreich. Ich bin Mitglied der ‚Claims-Konferenz‘, die von Österreich während der NS-Zeit geraubtes jüdisches Eigentum zurückverlangt. Ich würde als Nationalrat der ÖVP vermutlich oft in eine Konfliktsituation mit meiner jüdischen Interessenlage kommen. Ich danke für die Ehre und schätze Sie als einen Mann, der für Österreich viel getan hat!" Auch Figl war übrigens im Prominententransport Anfang April 1938 gewesen, weil er ein wichtiger Repräsentant des Ständestaates gewesen war.

Vom eigenen Chauffeur der Gestapo ans Messer geliefert

Ein weiterer "Häftling" im Prominententransport war Ludwig Klausner, ein Verwandter meiner verstorbenen Mutter Sidonie und Inhaber der Firma Del-Ka (später Delka). Er kam als Jude und Mitglied der Vaterländischen Front nach Dachau. Klausner fasste bereits in den ersten Tagen nach Adolf Hitlers Einmarsch in Österreich den Entschluss, das Land zu verlassen, und beauftragte seinen langjährigen Chauffeur, ihm eine Bahnkarte nach Zürich zu besorgen und ihn zum Westbahnhof zu fahren. Dort wartete aber bereits die Gestapo auf ihn. Sein "treuer" Chauffeur hatte sie vorsorglich über die Fluchtabsichten seines Chefs informiert. Dabei hatte dieser ihm nur Gutes erwiesen. Dass er Klausner ans Messer lieferte, brachte dem Chauffeur selbst übrigens keinen persönlichen Vorteil. Mit seiner Illoyalität zeigte er jene "selbstlose Gemeinheit", die Arthur Schnitzler in seinem Werk "Professor Bernhardi" beschrieben hat und die damals in Wien weit verbreitet war, wenn es galt, Juden Schlechtes zuzufügen und sie zu denunzieren.

Auch von Direktor Josef Fellner, der als Lehrbub von Klausner sehr gefördert worden war und später nach dem Zweiten Weltkrieg den Delka-Konzern führte, hörte ich ein typisches Beispiel dieser "selbstlosen Gemeinheit": Jüdische Geschäfte waren mit Davidsternen und Aufschriften wie "Kauft nicht bei Juden" beschmiert. Fellner arbeitete damals als Lehrbub in einer Delka-Filiale auf der Taborstraße. Er wollte eine Auslage dekorieren und entfernte zu diesem Zweck die Waren aus dem Schaufenster. Eine johlende Meute sammelte sich vor dem Geschäft an, in der Annahme, er wolle es plündern, und schrie: "Recht so, lass den Juden nichts übrig. Die Juden verdienen nichts anderes, sie sind Betrüger, Blutsauger und Volksschädlinge!"

Klausner selbst wurde auf dem Transport verhöhnt, gedemütigt, mehrfach geohrfeigt und schwer misshandelt. Die österreichischen SS-Leute hatten offenbar Spaß daran. In Dachau selbst erwartete ihn ein Martyrium. Unter Verzicht auf sein Vermögen wurde er dann nach mehr als einem Jahr freigelassen und konnte nach Übersee fliehen. Die Firma Delka wurde von der Creditanstalt arisiert.

Der Delka-Chef war nach dem Krieg ein gebrochener Mann

Meine Mutter erzählte später, dass Klausner nach dem Krieg ein gebrochener Mann war, der mit den Österreichern nichts mehr zu tun haben wollte. Seine von der Creditanstalt (CA) arisierte Firma verkaufte er "um ein Butterbrot" an die CA, deren Generaldirektor Josef Joham ihn über den Tisch zog. Joham galt als berühmt-berüchtigter Opportunist; Menschen seiner Art hatten nach dem Zweiten Weltkrieg oft große Erfolge und wurden durch Arisierungen reich.

Meine Eltern, die mit mehreren Opfern des Prominententransportes verwandt, befreundet und bekannt waren, repräsentierten das jüdische Schicksal dieser Epoche - die "conditio judaica" der Verfolgten und Überlebenden des Nazi-Regimes. Nach meinen verstorbenen Eltern wurde auf dem Gelände des ehemaligen Aspanger Bahnhofes im 3. Wiener Bezirk, von dem aus etwa 50.000 österreichische Juden die Reise in den Tod antreten mussten, die Rubin-Bittmann-Promenade benannt.