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Die ökonomische Heilsbotschaft

Von Guido Schäfer

Gastkommentare

Ist die "Modern Monetary Theory" ein genialer Impuls für die Wirtschaftspolitik oder doch fehlerhaft?


Die wirtschaftspolitischen Verheißungen der "Modern Monetary Theory" (MMT) sind zahlreich. Nichts weniger als inflationsfreie Vollbeschäftigung mitsamt Finanzierung von ökologischer Wende, neuen sozialen Ausgabenprogrammen und Investitionen in die öffentliche Infrastruktur werden in Aussicht gestellt. Der Weg dahin soll über notenbankfinanzierte staatliche Ausgaben führen.

Dem Staat gehen dabei nie die Mittel aus, da die Notenbank das erforderliche Geld zur Bedeckung der Ausgaben selbst erzeugen kann. Bestehen in einer Volkswirtschaft unterausgelastete Produktionskapazitäten und wird das frische Geld maßvoll ausgegeben, entsteht gemäß MMT keine Inflation, die das Fundament der Notenbankfinanzierung untergraben würde.

Die Zuspitzungen der MMT lassen nur zwei mögliche Beurteilungen zu - entweder handelt es sich um eine geniale neue Wirtschaftskonzeption zur Befreiung der Menschheit von einigen ihrer schlimmsten Geißeln, oder der Ansatz muss fehlerhaft sein. Die Mainstream-Ökonomie und ein Großteil des wirtschaftspolitischen Establishments lehnen die MMT vehement ab.

Dissens in der Theorie . . .

Die Probleme beginnen damit, dass die theoretischen Grundlagen der MMT nicht leicht fassbar sind. Auf mathematische Modelle zur Formulierung logisch konsistenter Theorien und auf ihre statistische Überprüfung - wie in der Mainstream-Ökonomie üblich - wird weitgehend verzichtet. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman beklagte etwa, dass er immer noch nicht wisse, was die MMT eigentlich genau sei.

Die MMT stellt grundlegende, breit akzeptierte Vorstellungen über "richtige" Wirtschaftspolitik in Frage. Hierzu zählen etwa die Bedeutung einer unabhängigen, glaubwürdigen, dem Ziel der Preisstabilität verpflichteten Notenbank, die Schaffung von wirtschaftlichem Wohlstand durch produktivitätssteigernde Investitionen innerhalb eines stabilen monetären Rahmens sowie die Warnung vor wachsendem Inflationsdruck bei starker Ausdehnung der Geldmenge und bei Annäherung an die volkswirtschaftliche Kapazitätsgrenze.

Analytisch erscheinen die Gräben zwischen der MMT und der Mehrheitsmeinung unüberbrückbar. Wenn eine Notenbank systematisch die Staatsausgaben finanzieren soll, kann sie nicht unabhängig sein und glaubwürdig ihre Tätigkeit auf die Schaffung von Preisstabilität ausrichten. Wenn eine stark wachsende Geldmenge zur Finanzierung staatlicher Ausgaben einer moderat wachsenden Gütermenge gegenübersteht, ist mittelfristig mit Inflation zu rechnen. Wenn Inflation die Effizienz der Wirtschaft lähmt, können Geldmengenausweitungen nicht den Wohlstand mehren. Wenn staatliche Defizite nicht beliebig durch die Notenbank finanzierbar sind, existieren weiterhin heikle Fragen über Defizitquoten, Verschuldungsgrenzen oder Zinseffekte der Staatsschuld. In Summe ist es sehr unwahrscheinlich, dass die MMT in der Debatte über die Zukunft der Wirtschaftspolitik die Oberhand gewinnen wird. Zu unausgegoren erscheinen zentrale Vorschläge ihrer Proponentinnen und Proponenten, zu marginal ist ihre Bedeutung in Theorie und Politik, zu gewichtig sind die Einwände.

Eine gewisse Annäherung der Positionen könnte jedoch in der wirtschaftspolitischen Praxis erfolgen, wenn man von den extremen Zuspitzungen der MMT absieht und bedenkt, dass seit der Weltfinanzkrise 2007 bis 2009 auch das Establishment zahlreiche Dogmen über den Haufen geworfen hat. Stabilisierende Fiskalpolitik und Ankäufe von Staatsanleihen durch die Notenbank stellen trotz aller Unterschiede in beiden Konzeptionen wesentliche Elemente der konkreten Wirtschaftspolitik dar.

Eine zentrale Rolle spielt das besondere wirtschaftliche Umfeld, in dem sich viele Volkswirtschaften seit Jahren befinden: Zinssätze nahe null, niedrige Inflation an der Grenze zur Deflation, gedämpftes Wachstum, hohe Verschuldung, unkonventionelle Geldpolitik - unter diesen Voraussetzungen ist im europäischen Kontext wahrscheinlich, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen vor dem nächsten Konjunkturabschwung nicht markant über null anheben kann.

. . . Annäherung in der Praxis?

In einer kommenden Rezession könnte wieder ein Rückgriff auf unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen wie neue Ankäufe von Staatsanleihen erforderlich werden. Auch müsste die Fiskalpolitik eine größere Rolle bei der Bekämpfung von Konjunkturschwächen übernehmen, da die Geldpolitik an ihre Grenzen stößt. Der Abbau der hohen Bestände an Staatsanleihen in den Bilanzen der Notenbanken nimmt ohnehin noch viele Jahre in Anspruch. Unter diesen ökonomischen Bedingungen könnten eine expansivere Fiskalpolitik und Ankäufe von Staatsanleihen durch die Notenbank noch länger ein bestimmendes Element der Wirtschaftspolitik bleiben. Ein Teil der Ausgaben würde dabei wohl tatsächlich in ökologische Projekte und neue soziale Programme fließen, da in diesen Bereichen Handlungsbedarf für die Wirtschaftspolitik besteht.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Expansivere Fiskalpolitik und Anleihenkäufe durch Notenbanken mit positiven indirekten Effekten auf die Finanzierung neuer staatlicher Aufgaben stellen keine Implementierung der MMT dar. Die Maßnahmen würden auf einem gänzlich anderen konzeptionellen Fundament beruhen. Das wirtschaftspolitische Instrumentarium könnte jedoch im Ergebnis mehr Elemente der praktischen Empfehlungen der MMT aufweisen, als manchen vielleicht bewusst ist.

Werden auch wie befürchtet Probleme bei Zentralbankunabhängigkeit, Inflation und Wachstum auftreten? Wie das japanische Beispiel mit drei Jahrzehnten Stagnation und Deflation trotz einer Staatsverschuldung von bald 250 Prozent des BIP und wiederholten Runden von Wertpapierkäufen durch die Zentralbank zeigt, könnten diese Bedenken noch zu den geringeren Problemen gehören.