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Mit Vernunft und Herz für die EU

Von Heinrich Neisser

Gastkommentare

Die von 23. bis 26. Mai stattfindenden Wahlen zum EU-Parlament sind nach Meinung vieler Experten Schicksalswahlen für die Zukunft der Europäischen Union. Solche Feststellungen sind meist als Versuch einer Dramatisierung eines Ereignisses anzusehen, um die Zahl derjenigen, die zu den Urnen gehen, zu optimieren. Man sollte daher die Qualifikation als "Entscheidungswahl für die Zukunft" des europäischen Einigungsprozesses realistisch sehen.

Es ist offenkundig, dass sich der europäische Integrationsprozess in einer kritischen und entscheidenden Phase für die Zukunft befindet. Das EU-Parlament hat in diesem Prozess eine wichtige Rolle als Mitgestalter; es ist aber keineswegs der Hauptverantwortliche für Fortschritte auf dem Weg zu einem geeinten Europa. Die entscheidenden Machtträger waren und sind die Mitgliedstaaten und die diese repräsentierenden Regierungen.

Diese Erkenntnis macht die EU-Wahlen keineswegs zu einem zweitrangigen Ereignis. Die Kräfteverhältnisse im EU-Parlament spiegeln eine europäische Grundeinstellung wider. Ein erheblicher Stimmengewinn rechtspopulistischer Strömungen wird im EU-Parlament in Zukunft zu einer verstärkten Konfrontation zwischen den politischen Richtungen führen. Das ist an sich kein Nachteil, da das parlamentarische Geschehen in Brüssel und in Strasbourg stärker wahrgenommen und die Bedeutung der parlamentarischen Vertretung für grundlegende Auseinandersetzungen stärker sichtbar werden wird.

Zwei inhomogene Gruppen stehen einander gegenüber

Der EU-Wahlkampf ist eine Konfrontation zwischen Befürwortern einer - im Konkreten durchaus unterschiedlichen und schwer erkennbaren - Einigungsvorstellung und einer gleichfalls nicht einheitlich positionierten Phalanx von EU-Skeptikern, die eine weitere Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses ablehnen und für die die nationalen Interessen absolute Priorität haben.

Über die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neuordnung des europäischen Einigungsprozesses sind sich viele Politiker einig. Der französische Präsident Emmanuel Macron plädiert für eine Neugründung der Union "ohne Tabus". Wie schwierig ein solcher Änderungsprozess sein wird, zeigt bereits die Tatsache, dass Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel trotz der Erkenntnis der Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels in den konkreten Reformvorstellungen nur schwer zueinander finden.

Gerade deshalb scheint es erforderlich, im Rahmen des EU-Wahlkampfes mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass die Europäische Union ihrem Wesen nach eine Wertegemeinschaft ist. In vielen Diskussionen tauchen immer mehr Zweifel auf, ob das Vereinigte Europa überhaupt zu einer Wertegemeinschaft fähig ist. Das Ringen um diese Werte muss ohne opportunistische Relativierung erfolgen. Die Auseinandersetzung mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán ist eine Herausforderung für den Bestand eines vereinten Europa.

Das Fundament der Rechtsstaatlichkeit muss ohne Einschränkungen gewährleistet werden. Wer dies nicht versteht, hat die EU nicht verstanden und muss Sanktionen akzeptieren. Der im Unionsvertrag verankerte Wertekodex und seine Einhaltung legitimieren es, die Union als "Vereinigte Staaten von Europa" zu bezeichnen.

Die europäische Einigung ist ein ethisches Projekt. Sie ist ein Fortschritt der Zivilisation und verlangt eine weltoffene Orientierung im Besonderen von denjenigen, die europäische Verantwortung tragen. Die Werteordnung dieser Staatengemeinschaft wird durch die Mitgliedstaaten geschaffen und gewährleistet. Diese sind zur Aufrechterhaltung jener liberalen Werte verpflichtet, die der Rahmen für politisches und ökonomisches Handeln sind.

Wahlkampf aus Dschungelvon Plattitüden herausführen

Wertediskussionen sind vor allem ein Appell an die Vernunft, sie können allerdings nicht allein auf der Grundlage eines Pragmatismus stattfinden. Das wäre zu wenig, um den Bürgerinnen und Bürgerinnen die europäische Idee damit zu vermitteln. Das Wissen um viele - vor allem ökonomische - Vorteile, die die europäische Einigung mit sich bringt, ist gleichsam die kognitive Basis für eine weitere Dimension eines europäischen Erlebnisses, nämlich eines emotionalen. Die Beziehung zu Europa muss auch auf diese Dimension gegründet werden. Vernunft und Herz sind eine Verbindung für das Bestehen einer Gemeinschaft, die sich einem geeinten Europa verpflichtet fühlt.

Es ist an der Zeit, auch in Österreich den EU-Wahlkampf aus dem Dschungel von Plattitüden und vereinfachenden "emotionalen" Argumentationslinien herauszuführen und auf die fundamentale Bedeutung der Wertegemeinschaft hinzuweisen. Das ist ein Bekenntnis zu den unverzichtbaren geistigen Grundlagen eines gemeinsamen Europa.

Ein Europa, das lediglich nach dem Prinzip des Intergouvernementalismus aufgebaut ist - das heißt, dass jeder Staat souverän bleibt und jede Entscheidung blockieren kann -, macht die Verwirklichung der europäischen Idee unmöglich. Dadurch würde auch die Europäische Union als Wertegemeinschaft zum Fragment werden. Sie benötigt mehr denn je ein gemeinsames Verständnis von Solidarität. Der anerkannte Innsbrucker Völkerrechtswissenschafter Peter Hilpold hat erst vor kurzem in der "Wiener Zeitung" darauf hingewiesen, dass die Krisen der Europäischen Union vor allem in einem Mangel an Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten begründet sind.

Stillstand des europäischen Einigungsprozesses

Die möglichen Erfolge rechtspopulistischer Parteien bei den EU-Wahlen werden nicht nur wie schon erwähnt zu einer stärkeren konfrontativen Auseinandersetzung im EU-Parlament führen. Es ist vielmehr zu befürchten, dass sie eine stimulierende Wirkung auf jene Parteien und Gruppierungen haben werden, die in den Regierungen der Mitgliedstaaten die Tendenz verfolgen, einen antieuropäischen Kurs zu forcieren und den Stillstand des europäischen Einigungsprozesses zu unterstützen, anstatt auf eine dynamische Weiterentwicklung hinzuwirken.

Das von der FPÖ immer wieder angesprochene Konzept eines "Europa der Regionen" bedeutet in seinem Wesen, dass Europa auf dem Wege des Intergouvernementalismus weiterschreiten solle. Die Staaten bleiben souverän und entscheiden, ob und in welchem Umfang sie am europäischen Einigungsprozess teilnehmen wollen. Supranationalität - die Übertragung nationaler Kompetenzen unter Verzicht auf die Souveränität auf eine europäische Ebene - ist unerwünscht. Der Spitzenkandidat der FPÖ verkündet im Wahlkampf immer wieder, er werde Stück für Stück der Souveränität zurückholen. Eine solche Strategie macht die Existenz einer europäischen Wertegemeinschaft unmöglich. Sie verhindert auch, dass die EU sich jemals zu einer politischen Union weiterentwickeln wird. Ein wiederholtes und bedingungsloses Bekenntnis zu den europäischen Werten, Menschenwürde, Menschenrechte, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, wäre eine Ermunterung für diejenigen Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die glauben, dass die Europäische Union eine sichere und lebenswerte Zukunft gewährleistet.

Ein erheblicher Stimmengewinn rechtspopulistischer Strömungen bei den EU-Wahlen
könnte auch die Wahrnehmung des EU-Parlaments verändern.