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Lieber nicht hinschauen?

Von Hussein Solomon und Arno Tausch

Gastkommentare

In westlichen Gesellschaften wird Antisemitismus gerne übersehen.


In diesen Tagen hielt der berühmte Politikwissenschafter Bassam Tibi im österreichischen Parlament eine Rede, in der er sagte, dass jeder, der sich dem Antisemitismus widersetze, sich jeder seiner Erscheinungsformen stellen müsse. Tibi warnte eindringlich vor dem islamischen Antisemitismus und betonte, dass Kritik an dieser neuen Form des Antisemitismus nicht als Islamophobie angesehen werden sollte. Es sei wichtig, eine klare Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus zu treffen. Tibi sagte: "Ich bin in einem antisemitischen Milieu in Damaskus aufgewachsen und kam als militanter Antisemit nach Europa."

Trotz der Tatsache, dass acht der bahnbrechenden Werke Tibis heute Klassiker der Disziplin und in mehr als 500 globalen Bibliotheken vertreten sind und sein Buch über die Herausforderung des Fundamentalismus (University of California Press, 1998) auf jeder Leseliste für fortgeschrittene Politologiekurse aufscheint, die sich mit der muslimischen Welt rund um den Globus befassen, hat die österreichische Presse im Großen und Ganzen seine Rede nicht oder nicht so zur Kenntnis genommen, wie sie es hätte tun sollen.

Wiewohl die globalen Fakten relativ eindeutig belegen, dass die militanteste und existenzbedrohendste Form des heutigen Antisemitismus weltweit von solchen Staaten wie dem Iran oder von terroristischen Gruppen wie Al-Kaida, Hamas, Hisbollah oder IS ausgeht, fällt es der Öffentlichkeit in europäischen Ländern, zumal in jenen, in denen die Nazi-Ideologie ihren Ursprung nahm, schwer, diese Tatsache anzuerkennen. Vielleicht auch deshalb, weil viele Politiker auf der radikalen rechten Seite des europäischen politischen Spektrums gerne den islamischen Antisemitismus ins Treffen führen, um selbst besser im internationalen Licht dazustehen.

Beziehung zwischen Religion und Antisemitismus

Seit der wegweisenden Studie von Theodor W. Adorno und anderen (1950) wurde behauptet, die Religion spiele eine wichtige Rolle beim Aufstieg des Antisemitismus in Verbindung mit anderen Faktoren. Es ist nur logisch, diese Hypothese mit vergleichbaren Meinungsumfragen aus so vielen Ländern wie möglich zu testen, um die Treiber des heutigen globalen Antisemitismus zu ermitteln und festzustellen, ob die Religion dabei eine Rolle spielt.

Vergleichende Daten zum globalen Antisemitismus sind rar, mit der bemerkenswerten Ausnahme der Studie der Anti-Defamation League (ADL, 2014) zu Antisemitismus in mehr als 100 Ländern. Jedwede Debatte über Tibis Thesen muss - vorurteilsfrei - bei diesen frei verfügbaren ADL-Daten beginnen.

Diese enthalten jedoch keine systematischen religiösen Hintergrundvariablen der tausenden globalen Befragten. Daher muss eine multivariate Analyse der Beziehung zwischen Religion und Antisemitismus auf andere Quellen zurückgreifen. In diesem Zusammenhang betritt der "World Values Survey" die Bühne. Ohne den Details unserer im Herbst erscheinenden Buchpublikation vorzugreifen, seien hier nur einige empirisch gut überprüfte Thesen im Kontext der für eine naive Willkommenskultur sicherlich unbequemen Thesen Tibis in den Raum gestellt.

Die ADL-Studie aus dem Jahr 2014 war ein Markenzeichen in früheren Untersuchungen, da sie den Weg für länderübergreifende empirische Vergleiche der Antisemitismusraten eröffnete. Der "ADL Global 100 Index Score" beträgt insgesamt 26 Prozent, das heißt: Mindestens 26 Prozent der Weltbürger - mehr als eine Milliarde Menschen - sind antisemitisch. Dies spiegelt den Prozentsatz der globalen Befragten wider, die sagen, dass mindestens sechs der elf negativen Stereotypen, die in der ADL-Studie (2014) getestet wurden, "wahrscheinlich zutreffend" sind.

Raten von 25 Prozent und mehr auch unter Katholiken

Selbst in der ideologisch aufgeladenen Atmosphäre der Debatten über Multikulturalismus in den meisten westlichen Ländern, in der rechtsgerichtete und fremdenfeindliche politische Parteien und soziale Bewegungen den multikulturellen intellektuellen Konsens der 1990er und 200er Jahre in Frage stellen, sollten wir uns die bereits von Robert S. Wistrich im Jahr 2007 aufgeworfene Frage nach der Zukunft des Multikulturalismus im Lichte der Beweise beantworten. Die Materialien unterstreichen dramatisch die Verbreitung des Antisemitismus in vielen Teilen der muslimischen Welt und nicht nur dort.

In unserer multivariaten Analyse der "World Values Survey"-Daten stellten wir zum Beispiel leider auch fest, dass in der Slowakei häufig Antisemitismus vorhanden ist. Auch Bosnien, Spanien und Albanien sind leider auf dieser Liste, die auf den Daten des "World Values Survey" beruht, der allerdings als Indikator für Antisemitismus nur die Ablehnung von jüdischen Nachbarn in 28 Staaten der Welt benutzt. Hier ist wohl auch zu erkennen, wie einige führende europäische katholische Gemeinschaften die Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils auch fünf Jahrzehnte später leider nicht umgesetzt haben. Im Gegensatz etwa zum Katholizismus in Kanada oder den USA weisen die Gemeinschaften frommer Katholiken, die jeden Sonntag zur Kirche gehen, in Albanien, Bosnien, Mexiko, Nigeria, der Slowakei, Spanien, Südafrika, Südkorea, Uganda oder Venezuela Antisemitismusraten von mehr als 25 Prozent auf. Im Irak, im Iran, in Ägypten und in Indien lehnen allerdings mehr als die Hälfte der nach allen Regeln der Meinungsforschung repräsentativ befragten Personen jüdische Nachbarn ab. In Kanada, Argentinien, Weißrussland, Uruguay und den USA lag dieser Prozentsatz unter 10 Prozent.

Es wäre freilich verfrüht, unsere Ergebnisse nur entlang globaler konfessioneller oder weltpolitischer Konfliktlinien zu interpretieren. Einige muslimische Mehrheitsgesellschaften wie Bangladesch oder Albanien schneiden hier besser ab als weltweite politische und militärische Verbündete des Westens, wie Südkorea, die Slowakei, Japan und Spanien.

Angesichts der empirischen Schwäche der traditionellen Erklärung des Antisemitismus durch die politische Links-Rechts-Skala nach Adorno ist es kein Wunder, dass heutzutage Religionsvariablen zunehmend zur Erklärung des Phänomens Antisemitismus verwendet werden. Bezogen auf den Prozentsatz des Antisemitismus pro globaler Konfession zeigt sich beim Antisemitismus eindeutig ein weltweites Gefälle von Nordwesten nach Südosten hin. Befragte des "World Values Survey" mit muslimischem, orientalischem christlichem, buddhistischem oder hinduistischem Hintergrund sind viel antisemitischer als die Anhänger des westlichen Christentums, der Orthodoxie oder Menschen ohne Konfession.

Toleranter und weltoffener Islam als Gegenmodell

Die schreckliche Wahrheit, die - rechte Populisten hin oder her - die lamentable Realität unserer heutigen Welt ausdrückt, ist, dass Islamisten wie andere totalitäre Ideologien keinen Unterschied tolerieren oder das sprichwörtliche "Andere" akzeptieren. Unsere Studie nennt die Eckpunkte dieser Entwicklung und zeigt auch Wege auf, wie sich ein toleranter und weltoffener Islam als Gegenmodell dieses Totalitarismus entwickeln kann.

Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703 bis 1792) erklärte alle, die sich seiner puristischen Vision vom Islam nicht angeschlossen hatten, als abtrünnig und des Todes würdig. Der selbsternannte "Islamische Staat" (IS) setzt diese wahhabitische Tradition fort, indem er muslimische Mitbürger als Abtrünnige bezeichnet. Eine unglaubliche Intoleranz gegenüber Dissidenten gegen etablierte Dogmen und das sprichwörtliche Andere liegen im Zentrum dieser Brutalität. Intoleranz zeigt sich im virulenten Antisemitismus der Islamisten - ein weiteres Merkmal, das sie mit den Nazis teilen.

Vorstellungen von Juden, die die Welt beherrschen, spielen eine herausragende Rolle in ihrem Diskurs, wie eine Durchsicht der Hamas-Charta zeigt. Diese versucht, militanten Nationalismus mit gewalttätigem Islamismus und bizarren Verschwörungstheorien zu verschmelzen. Wie bei anderen Islamisten wird der Friede zugunsten von Gewalt verworfen. Dies wird in Artikel 13 der Hamas-Charta ausdrücklich beschrieben. Antisemitismus und eine islamistische Geschichtsauffassung aus Artikel 22 der Charta bieten interessante Einblicke in die Denkweise der Hamas als Organisation. Hier wird erklärt, jüdisches Kapital kontrolliere einen Großteil der Welt; die Juden seien hinter der Französischen Revolution von 1789, der Russischen Revolution von 1917 sowie dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gestanden. Darüber hinaus heißt es in der Hamas-Charta, Juden hätten Freimaurer, Rotary Clubs und Lion Clubs als zerstörerische Spionageagenturen gegründet.

Gewalt und Zwang im Umgang mit Andersdenkenden

Zusammen mit dieser Paranoia sind Diskussion, Dialog und offene Debatte für Islamisten ein Widerspruch. Maulana Abul Ala-Maududi (1903 bis 1979), der Gründer der Jamaat-e-Islami-Organisation in Pakistan und ideologische Vater der Taliban, ist vielleicht das beste Beispiel für die Anwendung von Gewalt und Zwang im Umgang mit Andersdenkenden. Maududi selbst forderte einen universellen Dschihad. In dieser Hinsicht haben auch die Islamisten ein Merkmal mit den Kommunisten, Faschisten und Nazis der Vergangenheit gemein: den globalen Herrschaftsanspruch. Maududi argumentierte, der Islam wolle die Revolution nicht nur in einem Land oder einigen wenigen Ländern bewirken, sondern auf der ganzen Welt verbreiten. Obwohl es die Pflicht einer muslimischen Partei ist, diese Revolution zuerst in ihre eigene Nation zu bewirken, ist ihr Endziel die Weltrevolution.

Mit der Massenmigration aus Regionen, die gerade Risikogebiete für den Aufstieg des Antisemitismus sind, können wir nicht Wistrichs Frage nach dem Multikulturalismus entkommen. Dieser, schrieb Richard Bernstein in seinem Buch "Dictatorship of Virtue" (1994), "verurteilt die westliche Kultur als rassistisch, sexistisch und imperialistisch, während sie gleichzeitig die Tugenden nicht-westlicher, nicht-patriarchaler und Minderheitenkulturen als unterrepräsentiert und unterbewertet hervorhebt."