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Rückbesinnung auf die Europa-Idee

Von Heinz Handler

Gastkommentare

Gibt es eine "europäische Identität"? Oder doch nur Identitäre? Die EU-Wahl zwingt zum Nachdenken darüber.


Im Dezember 1973 propagierten die Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen die "europäische Identität". Als unabdingbare Grundelemente galten repräsentative Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit als Ziel des wirtschaftlichen Fortschritts sowie Achtung der Menschenrechte. Die (damals) Neun waren "davon überzeugt, dass dieses Vorhaben dem inneren Streben ihrer Völker entspricht, die an seiner Verwirklichung, vor allem durch ihre gewählten Vertreter, teilhaben müssen". Dabei wurden enge Bindungen zu anderen Teilen der Welt als "Unterpfand für Fortschritt und internationales Gleichgewicht" gewertet.

Wo bleibt die Empathie?

Was ist aus diesem "inneren Streben" der EU-Völker geworden? Zunächst konnte eine Reihe von Erfolgen verbucht werden: die Erweiterung um viele neue Mitgliedstaaten, die Weiterentwicklung zur Europäischen Union und wichtige Schritte zu einer umfassenden Währungsunion. Aber ist es auch gelungen, Empathie für Europa zu entfachen, also eine emotionale Bindung an Europa und nicht nur an die jeweilige lokale (und vielleicht noch) nationale Gemeinschaft zu entwickeln?

Viele Jahre konnte man mit der Fiktion einer solchen Bindung auskommen, bis sie im Zuge der weltweiten Finanzkrise, der Eurokrise mit der darauffolgenden Austeritätspolitik und der mittlerweile abgeflauten Migrationswelle einer anhaltenden Unsicherheit über hautnahe Existenz- und Verteilungsfragen Platz machte. In lokalen und nationalen Wahlauseinandersetzungen nutzten Rechtspopulisten diese Unsicherheit, um nicht nur gegen die herrschenden "Eliten" zu wettern, sondern auch gleich die repräsentative Demokratie selbst in Frage zu stellen. Von "europäischer Identität" ist kaum noch die Rede, der Identitätsbegriff wurde von Populisten und Nationalisten bis hin zu den rechtsextremen Identitären für ihre einseitigen Ziele in Beschlag genommen.

Die EU-Wahlen als Lackmustest

Die bevorstehenden Wahlen zum EU-Parlament werden den Prüfstein liefern, ob der grassierende Rechtspopulismus lediglich dem Abbau von aufgestautem Frust geschuldet ist oder doch vom Wunsch nach einer völligen Neuorientierung der Werteskala in Europa getragen wird. Betrachtet man die Kampagnen der wahlwerbenden Gruppierungen, ergibt sich ein breites Spektrum an Positionen, von voller Unterstützung der oben genannten Grundelemente (im Allgemeinen vertreten von Konservativen, Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten) bis zur Ablehnung jeglicher transnationalen Institution.

Zu dieser Gruppe gehören nicht nur die jüngst medial überrepräsentierten Identitären mit ihrem Rechtsextremismus, sondern auch gewählte Volksvertreter und regierende Politiker. Beispiele sind Frankreichs Marine Le Pen ("Die EU ist ein antidemokratisches Monster"), Italiens Matteo Salvini ("Diese EU muss vernichtet werden"), Ungarns Viktor Orbán ("George Soros hat vor, Europa mit Flüchtlingen zu überschwemmen"), Polens Jaroslaw Kaczynski (Polen dürfe sich nicht von den "sozialen Krankheiten" der EU anstecken lassen) oder der Brite Nigel Farage ("Wir kennen die Kosten Europas. Was sind die Vorteile?").

Ungeachtet solcher öffentlichkeitswirksamen Parolen von Rechtsaußen ist bei den Bürgern die Zustimmung zur EU sogar noch gestiegen. Seit dem Tief im Jahr 2016 steigen in Eurobarometer-Umfragen die Zustimmungswerte stetig an. Im Herbst 2018 hatten zwar noch 20 Prozent der Europäer ein negatives Bild von der EU, aber 43 Prozent ein positives, der Rest war indifferent.

Mehr Subsidiarität in Identitätsfragen

Um dem Auftrieb der nationalen Populisten mit ihren zerstörerischen Aktivitäten zu begegnen, muss man sich mit ihren Argumenten auseinandersetzen. Dazu gehört zunächst, der Angstmacherei vor der Überschwemmung Europas durch Migranten aus fremden Kulturen mit Fakten entgegenzutreten. Dann aber auch, eine wirksame Kontrolle der Außengrenzen einzurichten und eine faire Behandlung anerkannter Flüchtlinge sicherzustellen. Das immer wieder angeprangerte Demokratiedefizit der EU-Institutionen kann nicht mehr Nationalismus, sondern nur eine Erneuerung der EU-Verfassung beheben, indem etwa die von nationalen Interessen dominierten Ministerräte zu einer zweiten Parlamentskammer ausgebaut werden. Dafür zeichnet sich allerdings auf absehbare Zeit keine Initiative ab.

Um der Akzeptanz der Europa-Idee einen Dienst zu erweisen, müsste man wohl das Subsidiaritätsprinzip weiter ausgestalten: Jene Bereiche, die sinnvollerweise nur gemeinschaftlich behandelt werden können (internationale Wirtschaftsbeziehungen, Klimaschutz etc.), dürfen nicht durch das Einstimmigkeitsprinzip blockiert werden. Dagegen müssen nicht alle für die kulturelle Vielfalt bedeutsamen Rechtsbereiche auch noch von einem Segen der Gemeinschaft abhängen.

Eine wiederbelebte kollektive europäische Identität muss in nationale und diese wiederum in die jeweiligen lokalen Identitäten eingebettet sein. Europäische Identität verlangt nicht ideelle Gleichschaltung in allen Belangen, sie lebt vielmehr von der Diskussion unterschiedlicher Positionen und der oft schmerzhaften Suche nach gemeinsamen Lösungen.