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Das Zeitfenster für Europa nutzen oder zurück zu Vorgestern

Von Karl Aiginger

Gastkommentare

Die USA taumeln aus ihren internationalen Verpflichtungen heraus; China versucht über Seidenstraßen und Firmenkäufe weltweit seine Führungsposition und sein Gesellschaftsmodell zu zementieren; Russland, aber auch die Türkei und der Iran wollen frühere Stärke zurückgewinnen. Besonders China und Russland wünschen sich dabei ein zersplittertes Europa, damit sie leichter Zugang zu den Ressourcen einzelner Länder bekommen und niemand den Mut hat, unangenehme Fragen zum Thema Menschenrechte zu stellen. In den USA verurteilen Politiker und Ökonomen den Euro schon lange als Bedrohung des US-Dollars als Leitwährung und damit als Quelle billiger Finanzierung von Budgetdefiziten und Rüstungsausgaben.

In dieser Situation öffnet sich für Europa ein Zeitfenster. Die EU kann trotz schrumpfender Bevölkerung den ihrer Wirtschaftskraft entsprechenden Einfluss auf internationale Verträge gewinnen. Es kann die Globalisierung sozial und ökologisch gestalten, statt sie den USA zu überlassen. Es kann Investitionen in Euro so attraktiv machen, dass Europa stärker wächst und weltweite Überschussreserven in Europa veranlagt werden, sodass der Zinssatz dauerhaft sinkt. Es kann die Technologien zur Bekämpfung des Klimawandels entwickeln, statt die Elektromobilität Kalifornien oder China zu überlassen. Es kann durch kluge Partnerschaft mit Afrika dynamische Märkte schaffen, die Migration eindämmen und seine Einkommen deutlich heben, und zwar auch für das untere Drittel, das in den vergangenen Jahren Unsicherheit und stagnierende Einkommen erlebt hat und damit offen für populistische EU-Kritik wurde.

Dazu braucht Europa keinen Zentralismus, keine noch höheren Steuern, keine hohen Rüstungsausgaben, sondern Entschlossenheit, Selbstbewusstsein und die Erkenntnis, dass man gemeinsam mehr erreicht, als wenn jedes Land einzeln handelt. Ob Europa reif dazu ist oder in Konzepte von vorgestern und Träumereien von nationaler Souveränität zurückfällt, werden die heute, Donnerstag, beginnenden EU-Wahlen zeigen.

Europa ohne Migration ist kein attraktiver Wirtschaftsstandort

Derzeit gehen die Prognosen vom Verlust der gemeinsamen Mehrheit der beiden großen Fraktionen und Gewinnen für das populistische Lager aus. Wenn dieses ein Drittel der Mandate bekommt, kann es die EU-Kommission beeinflussen, Beschlüsse verhindern oder verzögern, internationalen Verträge und die Einhaltung der Menschenrechte torpedieren. Migration kann nicht gesteuert werden. Länder, in denen Migranten ankommen, werden nicht entlastest, und die Migranten selbst werden nicht dorthin gesteuert, wo sie dringend gebraucht werden.

Europa ohne Migration ist kein attraktiver Wirtschaftsstandort, verliert Touristen und Lebensfreude für Einheimische, weil Geschäfte und Lokale abends und am Wochenende geschlossen sind. Derzeit strömt Migration nur in Stadtzentren und wird dort als belastend gewertet. Jene Regionen, in denen die junge Bevölkerung um 30 bis 50 Prozent zurückgeht, werden sowohl in traditionellen als auch in Sozialen Medien gerne übersehen. Sie verlieren Betriebe und Investitionen. Und schuld daran ist "Brüssel", wie populistische Politiker immer wieder sagen, um sich selbst zu entlasten.

Wann ist Populismus gefährlich?

Populismus hat viele Facetten. Er beginnt mit einer vereinfachten Darstellung der komplexen Wirklichkeit und ist Merkmal erfolgreicher Politiker von Bruno Kreisky bis Winston Churchill. Gefährlich wird Populismus, wenn er die Bevölkerung in Gute und Böse teilt: "Wir" sind das Volk, strebsam und moralisch, die "Elite" ist korrupt und selbstsüchtig. Noch irreführender sind manipulative Ansagen, dass früher alles besser gewesen wäre, als es noch autoritäre Strukturen gab, eine Dominanz der Männer, das Recht, Kinder zu schlagen, und ein christlich homogenes Volk zum Beispiel in den Schmelztiegeln Ungarn und Österreich; und dass Klimawandel nicht erwiesen sei, und wenn, dann nicht vom Menschen verursacht. Als Lösung genüge, ein bisschen lokaler einzukaufen und durch Sperre der Grenze Importe zu drosseln - ohne zu beachten, dass dann die Einkommen weniger wachsen und alles teuer wird.

Dass es auch Linkspopulismus gibt, muss auch gesagt werden; Manchmal dominieren Gleichstellerei und Besserwissen. Alle Aufgaben werden dem "superklugen" Staat übertragen. Es gibt auch emanzipativen linken Populismus. Heute dominieren rechte Varianten. Auch diese sind unterschiedlich, wie Lega-Chef Matteo Salvini bei seinem Versuch sehen musste, eine gemeinsame Fraktion für die EU-Wahlen zu bilden: Französische, italienische und österreichische Populisten bewundern Russland; Polen und die baltischen Staaten wollen Schutz vor neuerlicher russischer Besetzung. Südliche Länder wollen höhere Defizite machen, damit sie ihre Ineffizienzen nicht ausräumen müssen. Es gibt daher kein offizielles Wahlprogramm, und eine konstruktive Fraktion wird auch nach den Wahlen wohl nicht zustande kommen.

"Einen gemeinsamen Pfadzum Austritt gestalten"

Gemeinsam ist Populisten die Forderung nach dem Ende des Euro und der Rückkehr zu nationalen Währungen. Ob die Auflösung der Europäischen Union ein Ziel ist, wird nicht immer ausgesprochen. Das Exit-Ziel für das eigene Land wird angesichts des Chaos durch das Brexit-Votum nunmehr oft verschwiegen, aber für jede Partei liegen entsprechende Hinweise vor. Norbert Hofer hat den Öxit im ersten Wahlgang der Bundespräsidentenwahl noch gefordert, HC Strache hat den Brexit euphorisch begrüßt, sein Freundschaftsvertrag mit Russland fördert die Spaltung Europas und die Destabilisierung des Balkans. Und Salvini hat seine Anstrengungen für eine Populistenpartei damit motiviert, "einen gemeinsamen Pfad mehrerer Parteien zum Austritt aus der EU zu gestalten".

Heute klingt das meist anders. Der Verbleib sei bei radikalen Änderungen der EU möglich. Nur wenn diese nicht einträten, würden der Exit des eigenen Landes und die Auflösung der EU nötig. Da aber die Wahrscheinlichkeit, dass radikale Änderungen rasch eintreten, gering ist und Populisten auch besonders auf der Einstimmigkeit von Beschlüssen beharren, lautet das versteckte Ziel: Auflösung der EU und Wiederherstellung souveräner Einzelstaaten (die dann lose kooperieren).

Mutige Vorschläge der europäischen Reformparteien

Harald Vilimsky, der EU-Spitzenkandidat der FPÖ, fordert ein "Zurück zu nationaler Souveränität", Österreich solle wieder selbst entscheiden können. Tiefere Absichten kann man am Stimmverhalten ablesen. Er hat im EU-Parlament gegen den Beitritt der EU zum Klimavertrag gestimmt, gegen Multilateralismus und UN-Werte, gegen die Reduktion der Schadstoffe bei Autos.

Die EU-Wahlen werden spannend. Die großen Parteien haben Programme vorgestellt, in denen Europa verbessert werden soll. Raschere Entscheidung und mehr demokratische Legitimität werden gefordert, eine Sozialunion mit steigenden Löhnen und gemeinsamen Standards als Ziel definiert. Die beiden proeuropäischen Reformparteien - die Liberale ALDE und die Grünen - haben mutige Vorschläge gemacht, bis zu "Vereinigten Staaten von Europa". In vielen Ländern wurden die Führungsteams verjüngt und ideologische Altlasten (nur Markt, alles über Verbote) entrümpelt. Die Jugend ist proeuropäisch und will endlich mitbestimmen und nicht nur am Freitag Schule schwänzen.

Die Karten werden neu gemischt. Europa kann gemeinsam in der komplexen und interessanten Welt mehr erreichen als bisher. Und mehr als jeder egoistische Staat alleine. Mit "Luxemburg zuerst" wird man keine Steueroasen stilllegen können. Verzeihung, liebe Luxemburger, ich wollte nicht einfach sagen, dass Österreich die Souveränität bei der Dopingkontrolle seiner Langläufer zurückwill.

Eine Zersplitterung der EU würde den anderen Großmächten in die Hände spielen.