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Darf der Mensch alles, was er vermag?

Von Wolfgang Glass

Gastkommentare
Wolfgang Glass ist promovierter Politologe und Personalberater in Wien.
© privat

Es vergeht aber kein Tag, an dem wir nicht selbst gegen die Handlungsanweisung für ein verträgliches Leben verstoßen.


Das Ibiza-Video hat gezeigt, dass Hochmut vor dem Fall kommt. Es zeigt aber auch, dass der Mensch das Wesen ist, das sich selbst vernichten kann. Wir wissen erst, was auf dem Spiel steht, wenn wir wissen, dass es auf dem Spiel steht. Dass man so handeln sollte, dass die Wirkungen der Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden, klingt logisch. Es vergeht aber kein Tag, an dem wir nicht selbst gegen diese Handlungsanweisung verstoßen. Wir sind ignorant und unfähig zur Problemlösung. Jeder nach seiner Fasson.

HC Strache und Johann Gudenus konnten nicht mehr anders als den Hut zu nehmen. Zu erdrückend ist die Beweislast der Korrumpierbarkeit, nachzuhören selbst für Analphabeten, da man nur noch YouTube schauen muss. Aber was ist beispielsweise mit einem Krankenhaus Nord und den Millionen an Steuergeldern die einfach verbrannt worden sind. Niemand ist zuständig! Damit sei gesagt, dass es zu wenig ist, sich als Sieger zu fühlen, nur weil sich eine Regierungsform im Moment selbst demontiert hat.

Es geht nämlich um mehr: Es ist zu billig, die Politiker für all Unbill dieser Welt verantwortlich zu machen. Sie bringen die Leute nicht gegeneinander auf, wirken maximal als Katalysator einer Polarisierung, die längst im Gang ist. Diese Polarisierung findet ihren Ausgang in der Ökonomie. Die spaltende Kraft ist somit die Stagnation. Viele Menschen arbeiten und haben eine gute Ausbildung bekommen (besser als ihre Eltern), trotzdem stagnieren sie bei 1500 bis 2500 Euro Brutto-Einkommen im Monat. Sie sehen ihre Felle davonschwimmen, misstrauen den Profiteuren, dem Establishment und der Politik. Am Ende des Tages zählt, was für den Bürger übrigbleibt. Und wenn das dann nur das modische Smartphone ist, das einem ob der vielen Funktionen fremd und kaum zu bedienen ist (Medienkompetenz) beziehungsweise das Handy nicht dem Nutzer dient, sondern umgekehrt (Datenschutz), dann trauen sie keinem Politiker, Ökonomen und Statistiker mehr.

Kann unsere Demokratie auf Dauer ohne ökonomisches Wachstum funktionieren?

Bei Zinsen, die gegen Null tendieren, kann man auch davon ausgehen, dass Kapitalisten keine Ideen mehr haben, wie man Geld vernünftig anlegen soll. Die Frage wird sein, ob eine Demokratie so, wie wir sie kennen, ohne ökonomisches Wachstum überhaupt auf Dauer funktionieren kann. Solange der Kuchen immer wächst, gibt es etwas zu verteilen. Wenn er lange Zeit nicht mehr wächst, wird es mit der Verteilung schwierig. In den USA gab es seit der Revolution vor 250 Jahren einen Aufschwung. Seit den 1970er Jahren stagniert auch dort die Wirtschaft. Europa hatte in den 1930er Jahren schon einmal eine Phase der Stagnation. Nicht, dass die Faschisten/Kommunisten wieder an die Macht kommen. Das sind eher Jugendbewegungen, die wir in der überalterten Bevölkerung kaum noch haben. Aber der Konflikt zwischen Jung und Alt wird rauer werden.

Die Bürger kann man also mit virtuellen Realitäten/Streamings ruhig stellen, oder einfach mit Brot und Spielen, ein paar legalen Drogen (Alkohol, Psychopharmaka und dergleichen beziehungsweise harten Drogen/Opioiden, siehe USA: bis zu 400.000 Tote) und Billigflügen in tropische Bettenburgen während kalter Winter (Stichwort: Kostenwahrheit bei Flugreisen). Denn durch die medialen Gleichheitsbestrebungen (Facebook und Co.) des Sich-Vergleichens wurde eine gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt, die die Sündenbock-Komponente befeuert. Fühle ich mich zurückgesetzt, ist immer jemand anderer schuld. Die rechten Bewegungen in Europa und den USA haben das erkannt. Die Sozialdemokratie hat aber eher den ökonomischen Sachverstand eingebüßt, gemeinsam mit den linken Paternalisten (Grüne) die anderen sagen, wie sie gute Menschen sein können und gut leben können.

Es fehlt an echten Innovationen

Fakt ist nämlich betreffend der Internet-Wirtschaft auch, dass die letzte gute Innovation (das Smartphone) weit über zehn Jahre her ist. Vor allem Software-Größen konnten dadurch befeuert werden. Die Werte von Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft liegen bei jeweils mehr als 100 Milliarden Dollar, der große Hardware-Produzent Tesla kommt lediglich auf 40 Milliarden, bei den besten Biotech-Firmen sind es 10 bis 20 Milliarden. Wir sprechen zwar ständig über innovative Neuigkeiten und haben das Gefühl, dass wir ständig produktiver und effizienter werden. Doch das sind bloß die neuen Gadgets, die uns darüber hinweg täuschen. Tatsächlich treten wir an Ort. Die selbstfahrenden Autos sollen ja auch schon seit zehn Jahren ums Eck stehen, fahren aber noch immer nicht.

Dass nun die Wahl zum EU-Parlament in einer langen Phase der Stagnation ansteht, passt. Die EU ist brüchig. Sämtliche Beitrittskandidaten sind Nettoempfängerländer. Die Südländer sind überschuldet und ändern es nicht, in den Visegrad-Staaten ist ein neuer Nationalismus entstanden, Russland nimmt Einfluss auf innere Entscheidungsprozesse der Europäer und China baut mit der neuen Seidenstraße Abhängigkeiten auf dem Balkan auf. Darüber hinaus "passieren" ständig Skandale mit öffentlichen Geldern, bei denen angeblich niemand zuständig ist. Die persönliche ökonomische Realität, die scheinbare Realität der Anderen und die medialen Bilder, die die Welt erklären könen sehr wohl dazu führen, dass es scheint, dass der Mensch alles darf, was er vermag, vorausgesetzt man kommt ihm nicht auf die Schliche. Die Politik muss sich der Wirtschaft annehmen, um wieder eine Romantik für die Bürger schaffen zu können. Nur Neuwahlen und flapsige gegenseitige Anschuldigungen der Parteien, ohne Sachthemen, bringen nichts.