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Europa bräuchte eine Wahlpflicht

Von Max Haller

Gastkommentare

Dass die Wahlbeteiligung bei EU-Wahlen - abgesehen vom jüngsten Ausreißer - eher gering ist, liegt am mangelnden Verständnis der Wähler für die Bedeutung des EU-Parlaments.


Die EU-Wahlen haben zumindest einen positiven Trend gezeigt: Die Wahlbeteiligung stieg EU-weit von 42,6 (2014) auf fast 51 Prozent; in Österreich war der Zuwachs noch stärker, von 45,4 auf voraussichtlich 59,3 Prozent. Dieser Umschwung hat aber ein Faktum nicht verändert: Die Nichtwähler sind bei EU-Wahlen die größte Partei. Zur vergangenen Nationalratswahl in Österreich gingen immerhin 80 Prozent der Wahlberechtigten. Auch ist schwer zu übersehen, dass die höhere EU-Wahlbeteiligung durch innenpolitische Gründe mitverursacht wurde und auch zu weniger erfreulichen Ergebnissen geführt hat. So wurden etwa in den Visegrad-Ländern fast durchwegs die autoritären Regierungen gestärkt, in Italien und Frankreich äußerst rechtsorientierte Parteien. Warum bleibt die EU-Wahlbeteiligung so gering, insbesondere bei demokratisch gesinnten Wählern?

Nun, warum geht man überhaupt zu einer Wahl? Wenn man das Gefühl hat, dass sie etwas bewirkt. Nationalratswahlen führen in der Regel zu einer neuen Regierung; zumindest Teile der Wahlprogramme werden erkenntlich umgesetzt. Die Wahlbeteiligung steigt, wenn es um wirkliche Entscheidungen geht: 1994 nahmen 82 Prozent der Wahlberechtigten an der Entscheidung über den EU-Beitritt teil; bei den meist konsequenzlosen Volksbegehren war es maximal ein Viertel. Wichtig sind auch politische Persönlichkeiten. Den Ausgang von Nationalratswahlen bestimmen die Spitzenkandidaten mit - die europäischen Spitzenkandidaten Manfred Weber, Frans Timmermans oder Margrethe Vestager sind außerhalb ihrer Heimatländer kaum bekannt.

Geringe Auswirkungen auf reale Arbeit im EU-Parlament

Um konkrete Weichenstellungen nach der Wahl scheint es im Falle von EU-Wahlen leider nicht zu gehen, auch wenn zuletzt vielfach von einer "Richtungswahl" um "die Zukunft Europas" zwischen einem demokratisch-sozialen und einem nationalistisch-autoritären Europa gesprochen wurde. Was sich ändert, ist allenfalls die relative Stärke der großen EU-Parlamentsfraktionen. Die Rechts-außen-Parteien erreichen maximal ein Viertel der Sitze; ihr Erfolg geht vor allem auf einzelne nationalistische Führer zurück. Prozentuelle Verschiebungen in der Stärke der verschiedenen Parteien haben jedoch geringe Auswirkungen auf die reale Arbeitsweise des EU-Parlaments, weil die Parteien auf EU-Ebene nicht in wirklichem Wettbewerb zueinander stehen, sondern nach dem Koordinations- und Konsensprinzip funktionieren; vor den meisten Entscheidungen stimmen sich die großen Parteien untereinander ab.

Angesichts der Vielfalt der Interessenbruchlinien und der enormen Unterschiede in der Größe der EU-Staaten ist dies auch gar nicht anders möglich. Bei harten Mehrheitsabstimmungen könnten große Länder die kleinen leicht überstimmen, mit verhängnisvollen Konsequenzen für den Zusammenhalt des Ganzen. Das EU-Parlament hat zudem immer noch deutlich weniger Kompetenzen als nationale Parlamente: Ihm fehlt deren zentrale Befugnis, selber Gesetze zu initiieren und den Regierungschef (den EU-Kommissionspräsidenten) vorzuschlagen.

Brexit als klares Votum gegen "Vereinigte Staaten von Europa"

EU-Wahlen sind also "Wahlen zweiter Ordnung". Ihnen wird geringe Bedeutung zugesprochen, Nichtteilnahme ist nicht notwendigerweise ein Indikator für Ablehnung, sondern eher für Indifferenz. Kurzfristig wirksame Maßnahmen zur Steigerung des Bürgerinteresses gibt es kaum. Die aus längerfristiger Sicht naheliegende Idee, die Kompetenzen des EU-Parlaments zu stärken, dürfte wenig erfolgversprechend sein. Die kontinuierliche Abnahme der Wahlbeteiligung auf EU-Ebene von 1979 bis 2014 von 62 auf 42 Prozent erfolgte, obwohl in dieser Zeit das EU-Parlament signifikant weitere Kompetenzen bekam.

Eine massive Aufwertung des EU-Parlaments schiene auch problematisch. Der Brexit muss wohl - und dies wird weithin übersehen - als klares Votum gegen die Idee der Entwicklung der EU hin zu "Vereinigten Staaten von Europa" angesehen werden. Dies war auch der Hauptgrund für die eindeutige Ablehnung der Verfassung für Europa in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005.

Drei keineswegs utopische Maßnahmen könnte man sich dennoch vorstellen, wenn ihre Realisierung auch wenig wahrscheinlich erscheint. Die erste wäre die Wiedereinführung der Wahlpflicht. Diese führt eindeutig zu höherer Wahlbeteiligung, wie Belgien und Australien zeigen. Sie stärkt auch das Grundprinzip der Demokratie (Herrschaft des Volkes). Es sind vor allem die Bürger in einfachen sozialen Schichten, die häufiger nicht wählen.

Eine zweite Strategie könnte sein, die EU-Wahlkämpfe inhaltlich stärker auf konkrete und relevante Probleme zu fokussieren. Wer wäre nicht für den Kampf gegen Arbeitslosigkeit, einen europäischen Sozialpakt, ein bürgernäheres Europa, Bürokratieabbau, den Kampf gegen Kriminalität, um nur einige der Slogans aus dem Wahlkampf zu erwähnen? Wie wäre es mit Themen wie einer Kontrolle des ausufernden Transitverkehrs durch Österreich (mit fragwürdigen Arbeitsverhältnissen der Fahrer und immer häufigeren katastrophalen Unfällen); mit der Aufhebung der unverständlichen Steuerfreiheit für Kerosin, in deren Folge die Zahl der Billigstflüge eingebremst und die Umweltbelastung reduziert würde; mit einer Kritik an steigender Rüstungsproduktion und -exporten durch die größeren EU-Staaten? Konkrete Zielsetzungen dieser Art wären gut verständlich, und entsprechende Maßnahmen hätten konkrete Folgen. Sie wären allerdings auch für viele Unternehmer und Konsumenten in Österreich unangenehm.

Weniger Mandate zur Stärkung der einzelnen EU-Abgeordneten

Schließlich erschiene es - paradoxerweise - möglicherweise sogar zielführend, die Größe des EU-Parlaments (751 Mandatare) zu reduzieren: Im US-Kongresses sitzen 435 Abgeordneten, im indischen Parlament repräsentieren 543 Personen mehr als 800 Millionen Wähler. Dieser Vorschlag wird wohl die gesamte politische Klasse kaum in Erwägung ziehen, würden doch viele lukrative Jobs wegfallen. Allerdings könnte die Verkleinerung mit einer Konzentration auf wesentliche Probleme und einer Stärkung der einzelnen Abgeordneten einhergehen. Diese könnten sich in ihren Ländern schon in Vorwahlen direkt den Wählern präsentieren, und es würden seltener Kandidaten aufgestellt, die auf nationaler Ebene politisch erfolglos, bereits im Ruhestand oder allenfalls als Sportler, Fernsehsprecher, Köche usw. bekannt sind.

Man könnte mit weniger Mandaten auch das Problem reduzieren, dass einmal gewählte Politiker sich Aufgaben suchen, was zu einer Vielzahl an relativ unwichtigen, wenn nicht überflüssigen Gesetzen, Verordnungen und Resolutionen führt. Die Zahl der Mandate könnte auch von der Wahlbeteiligung abhängig gemacht werden, als Antrieb für die Politiker, für eine höhere Wahlbeteiligung zu kämpfen.