Zum Hauptinhalt springen

Kein Spitzenkandidaten-Effekt

Von Florian Hartleb

Gastkommentare
Florian Hartleb ist Politikwissenschafter und -berater und lehrt an mehreren Universitäten. Er lebt in Tallinn in Estland.

Das deutsche EU-Wahlergebnis war eine Abstrafung der großen Koalition.


Manfred Weber, Spitzenkandidat der noch immer stärksten Kraft im EU-Parlament, der Europäischen Volkspartei (EVP), mühte sich ein Lachen ab, als er am Wahlabend in der CDU-Zentrale in Berlin vor die Kamera trat und äußerte: "Die schönste Nachricht des heutigen Tages ist: Die europäische Demokratie lebt." Er meinte damit die gestiegene Wahlbeteiligung.

Dabei dürfte dem engen Freund von Sebastian Kurz gar nicht zum Lachen zumute sein. Zu verheerend sind die Zahlen. Die Union hat bei der EU-Wahl das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren. Selbst bei der CSU in Bayern war vom apostrophierten "Weber-Effekt" wenig zu spüren, auch wenn die 40-Prozent-Hürde doch noch geknackt wurde.

Insgesamt wurde die große Koalition, wie wir sie auch über lange Jahre in Österreich hatten, abgestraft. Insbesondere die Sozialdemokratie erfuhr mit dramatischen 15,8 Prozent ein weiteres Desaster und dürfte sich nun in Personaldiskussionen verstricken. Die Parteivorsitzende Andrea Nahles dürfte kaum noch zu halten sein. Bei der zeitgleichen Landtagswahl im roten Bremen landete die dauerregierende SPD auf Platz zwei hinter der CSU.

Auch die Frage nach einem Ausstieg aus der großen Koalition auf Bundesebene dürfte sich wieder stellen, da die Parteibasis grollt. Und der Höhenflug der Grünen hält an. Im Zuge der Diskussionen um die Klimaveränderung können sie vor allem bei jungen Wählern und in den Großstädten punkten. Die AfD, die sich nur zögerlich von ihrem österreichischen Verbündeten, der FPÖ, distanzierte, schnitt schlechter ab als erwartet. Gleichwohl schickt sie sich in Ostdeutschland an, eine Volkspartei zu werden. In Sachsen und Brandenburg wurde sie stärkste Kraft, nur wenige Monate vor den Landtagswahlen.

Das Ergebnis rüttelt die Strategen auf, gab es doch einschneidende, auch sichtbare Veränderungen. Die CDU etwa plakatierte mit dem CSU-Politiker Weber und nutzte erstmals das Logo der EVP. Der eher bedächtige Niederbayer Weber, studierter Ingenieur, inszenierte sich über Monate hinweg als Kandidat, von der EU-weiten Kandidatenkür im November in Helsinki bis zur Abschlusskundgebung in seiner Heimatstadt München. Er, der in der Flüchtlingsdiskussion näher bei Angela Merkel als beim damaligen Parteivorsitzenden Horst Seehofer war. Im Wahlkampf gewann er auch an Profil, als er etwa dem ungarischen Premier Viktor Orbán die Unterstützung aufkündigte.

Weber tourte voller Elan durch Europa. Der Wahlkampf für ihn wandert nun in Verhandlungsräume, um wirklich Kommissionspräsident zu werden. Weber ist selbst in Deutschland wenig bekannt, wie Umfragen zeigten. Das würde einer Wahl keinen Abbruch tun, doch sind die Volksparteien der Mitte die großen Verlierer der EU-Wahlen, was die Konstellationen im EU-Parlament deutlich verändert.

Die große Koalition in Deutschland könnte bald am Ende sein. Gerade die Sozialdemokratie könnte bald ausscheren, die Grünen wiederum könnten sich als neuer Partner anbieten. Rätselhaft bleibt, ob Kanzlerin Merkel nicht früher das Zepter abgibt. Die CDU sucht ebenso wie die SPD einen Sündenbock.