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Eine Chance für die Vertrauenswende

Von Verena Ringler

Gastkommentare
Verena Ringler ist Kuratorin der "Erste Foundation 2019 Tipping Point Talks" in Wien (www.erstestiftung.org/200) und Co-Autorin des EU-Aufweckberichtes "Refocus the European Union: Planet, Lifetime, Technology" (Carnegie Europe, Mai 2019) sowie in "Realistic Hope - Facing Global Challenges" (Amsterdam University Press, 2018). Sie baute das Europaprogramm der Stiftung Mercator auf.
© Peter M. Mayr

Österreich braucht jetzt europapolitische Initiativkraft, am besten vor der Haustür.


Die Parteien konzentrieren sich auf die Nationalratswahl im September und die Wiener Landtagswahl 2020, auf Kosten der europäischen Politik. Gerade dort aber darf sich Österreich gerade jetzt nicht abmelden, auch nicht vorübergehend. Im Gegenteil - um Handlungsfähigkeit im europäischen Zusammenspiel zu gewährleisten, müssen sich die Parteien quer über das Spektrum hinweg auf einen neuen europapolitischen Konsens einigen und diesen mit Energie verfolgen. Es gilt nach innen klarzustellen, wozu man steht, was man tun will und was nicht. Für den neuen Europa- und Außenminister Alexander Schallenberg heißt das, mit Verve proaktive vertrauensbildende Maßnahmen zu stärken - besonders in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Warum? Bereits Mitte 2018 hat Österreich schlechte Noten als Team-Player innerhalb der EU erhalten. Zwar trug die Bundesregierung unter Sebastian Kurz während der EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte unter anderem dazu bei, die EU während der Brexit-Verhandlungen zusammenzuhalten. Doch das reichte nicht, um Versäumnisse in der eigenen Nachbarschaft wettzumachen. "Österreichs geografische Lage in der Mitte Europas kontrastiert mit seinem politischen Platz am Rand," erklärt dazu Josef Janning vom European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin. Sein Team legt alle zwei Jahre den "EU Coalition Explorer" auf, der auf mehr als 1000 Seiten online verfügbar ist. Auf Basis von Befragungen nationaler Führungskräfte in Politik, Verwaltung, Denkfabriken und Universitäten zeichnet der "Explorer" ein Bild über die nach außen gerichtete Kontaktlinie sowie die eintreffenden Anfragen, Initiativen oder Einladungen anderer Regierungen der EU.

Blamabler 21. Platz bei der Frage nach "mehr Europa"

Bei der Frage, welches Mitgliedsland sich am meisten für die Vertiefung der EU oder "mehr Europa" einsetzt, liegt Österreich auf dem blamablen 21. Platz. Es führen: Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg. Bei der Frage, welches Mitgliedsland am meisten enttäuscht hat, liegt Österreich - ebenfalls blamabel - auf Rang 6. Hier führen: Ungarn, Großbritannien und Polen.

Das spezifische Versäumnis, das Österreich laut ECFR von den übrigen Regierungen attestiert wird, ist ausgerechnet das geringe Engagement in Richtung Mittel- und Osteuropa sowie Balkan. So klopfen die Regierungen Kroatiens, Sloweniens, Bulgariens, Ungarns oder Tschechiens laut ECFR regelmäßig in Wien an, um sich frühzeitig oder vertieft über EU-Themen auszutauschen. Österreich jedoch öffnet die Tür nicht und blickt laut den Befunden vor allem nach Deutschland, in die Niederlande und nach Italien.

Aktionen wie die Indexierung der Familienbeihilfe etwa führten im vergangenen Herbst dazu, dass sich Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Polen, Bulgarien, Litauen und Slowenien bei der EU-Kommission per Brief über Österreich beschwerten. Ungarn habe sich sogar direkt an die Regierung Kurz gewandt, aber keine Antwort erhalten, hört man. Rumänien drohte mit einer eigenen Klage vor dem Gerichtshof der EU; die Regierung in Budapest schloss sich dieser Drohung an.

Was also kann die Expertenregierung unter Brigitte Bierlein und was können die Parteien tun, um die Gesprächsbasis gerade in der Nachbarschaft zu verbessern? Da auf Österreich nach wie vor Hoffnungen als Vermittler und Treiber der EU-Integration des Westbalkans ruhen, ist primär hier anzusetzen. Darüber hinaus könnte sich der heimische Politikbetrieb im Zusammenspiel mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft als zukunftsgerichteter zentraleuropäischer Akteur in drei Handlungsfeldern beweisen: Klima- und Wirtschaftswende, Technologie-Governance (sorgfältige politische Strukturierung des digitalen, grenzüberschreitenden Raums) und Demografie (inklusive Soziales, Bildung, Mobilität und Migration).

Mehr Zentraleuropa- und Westbalkan-Aktivitäten

Die Überlegung: Zum einen gilt es heute laut Erhard Busek, das Wissen umeinander in der Region Zentraleuropa wieder aktiv zu stärken. Denn viele der früheren Anstrengungen wurden seit der großen EU-Erweiterungswelle vor mehr als zehn Jahren nicht weitergeführt. Zum anderen teilt Österreich den Bedarf nach Lösungsansätzen für diese drängenden Querschnittsthemen mit seinen Nachbarn. Konkret könnten Akteure im Politikbetrieb folgende Maßnahmen anstoßen, die auf österreichische Stärken und Erfahrungswerte aufbauen und kosteneffizient lösbar sind:

Initiativen der funktionalen Diplomatie - salopp übersetzt: der "thematischen Diplomatie" - mit den Akteuren in Zentral- und Osteuropa als auch am Westbalkan: Über Digitalisierung und Klimawende lässt sich leichter reden als über Reizthemen wie Migration. Durch kluges Zusammenbringen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure stärkt man in solchen Themen gezielt Verbindungen quer über die Bereiche Gesellschaft, Kultur, Kreativwirtschaft und Digitalszenen hinweg. Heimische Erfolgsformate wie die Innovationsfestivals "15seconds" in Graz oder "Pioneers" in Wien und die Aktivitäten von Universitäten, Fachhochschulen, Musikfestivals und Denkfabriken können Synergien und regionale Projektkraft entwickeln, wenn sie grenzüberschreitend gedacht und gemacht werden.

In Zeiten der "City Diplomacy", also der wachsenden Rolle von Städten in internationalen Ordnungsfragen, könnten die laut Städtebund mindestens 125 bestehenden Städtepartnerschaften zwischen Österreich und Städten in Zentral- und Osteuropa und am westlichen Balkan vertieft werden. Ob zu den UN-Nachhaltigkeitszielen oder zur Klimawende - im konkreten thematischen Zusammenspiel baut man Vertrauen und Problemlösungskapazitäten auf. In ruhigen Zeiten sieht das nach Kür aus. In schwierigen Phasen ringt man erfahrungsgemäß um jeden belastbaren Gesprächskanal.

Aktive Bildungs-, Kultur-, und Jugendarbeit zwischen Österreich und Zentral- und Osteuropa beziehungsweise dem Westbalkan: Bilaterale oder regional aufgelegte Angebote bleiben mit Ausnahme tapferer Einzelinitiativen inzwischen aus. Das Rad muss nicht neu erfunden werden: Auf Bestehendes wie das Europäische Jugendparlament (EYP), das World University Service (WUS), den Social Innovation Award (SIA) oder den zivilgesellschaftlichen Inkubator "Advocate Europe" kann aufgesattelt werden. Dies gilt für mögliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Österreich genauso wie aus den Nachbarländern.

Aufbau eines Expertenpools für internationale Friedens- und Sondereinsätze: Bis heute hat Österreich - im Gegensatz zu Deutschland, der Schweiz und den skandinavischen Ländern - keine Datenbank seiner international qualifizierten, zivilen Fachkräfte und keine gezielte Personal- oder gar Platzierungsstrategie für diese oft freiberuflichen Experten. So ein Pool würde es den Ministerien ermöglichen, rasch und unkompliziert auf Expertise oder tatsächliche Feldeinsätze der zivilen, international Qualifizierten zurückzugreifen. Zugleich würde ein solcher Pool Österreichs Neutralität neu beleben.

Austausch neu und parteiübergreifend beleben

Sind das Orchideenprojekte in Zeiten von Ibiza-Gate und europäischer Polykrise? Mitnichten. Je komplexer, schneller und scheinbar unlösbarer die Lage, desto wesentlicher ist der proaktive Sprung nach vorne. Grenzüberschreitende Gestaltung mobilisiert, inspiriert, bereichert. Sie stärkt im Politikbetrieb eine "Kultur des Gefasstseins" (Zitat aus einem Plädoyer des European Strategy and Policy Analysis Systems) und kann im Ernstfall zur handfesten Krisenlösung beitragen.

Gerade die Monate der Übergangsregierung erlauben es, Türen zu öffnen und den Austausch mit Akteuren aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zuhause und mit den Nachbarländern neu und parteiübergreifend zu beleben. Letztlich sind es nicht die Fotos von EU-Gipfeltreffen, sondern die Kontakte zwischen Menschen hier in der Region, die über das Gelingen einer österreichischen Vertrauenswende entscheiden.