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Fünf Ziffern für sechs Jahre Entwicklungsdifferenz

Von Ernst Smole

Gastkommentare

Die fachliche Vernunft jenseits politischer Ideologien spricht gegen Zeugnisnoten für Volksschüler.


Der Schulschluss naht und mit ihm die Frage der Notengebung, also der Leistungsbeurteilung. Zuletzt hat eine ÖVP-interne Kontroverse zwischen dem Wissenschafts- und Bildungssprecher des ÖVP-Parlamentsklubs, Rudolf Taschner, und dem Vorsitzenden der ÖVP-dominierten Pflichtschullehrergewerkschaft, Paul Kimberger, für Aufsehen gesorgt. Ersterer forderte die Einführung von Ziffernnoten bereits in der Anfangsphase der Volksschule, Letzterer lehnt diese ab. Beiden gemeinsam ist der Wunsch nach einer ehrlichen, aussagekräftigen und menschengerechten Beurteilung unserer Jüngsten.

Ich habe den Parlamentarismus aus mehreren Perspektiven kennengelernt. Eine zentrale Folge der gewonnenen Einsichten ist Respekt gegenüber allen Persönlichkeiten, die sich der Politik, insbesondere jener des Bundes, und damit auch der medialen Öffentlichkeit, zur Verfügung stellen, sei es auf der Seite der Regierung oder auf jener des Nationalrates oder des Bundesrates. Wer politisch im Bildungsbereich tätig ist, gerät rasch zwischen alle Fronten - auch innerhalb der eigenen Partei.

Der Zeitdruck, die steigende Komplexität der politischen und sachbezogenen Materien, die sich beschleunigenden Entwicklungen auf allen Ebenen und das Aufgehen von Scheren in vielen Gesellschaftsbereichen machen es zunehmend schwierig, zu politischen Positionen zu gelangen, die den heutigen Bedingungen, Fakten und Möglichkeiten entsprechen. Deren Kenntnis ist Voraussetzung für orientiertes politisches Handeln. Doch diese handlungsleitenden Fakten haben immer öfter mit jenen vor einem Jahrzehnt nichts mehr gemeinsam. Dies gilt in besonderem Ausmaß für den Bildungsbereich.

Immer mehr Kinder mit Entwicklungsverzögerungen

Man weiß aus der aktuellen Schulpraxis und dank belastbarer gesicherter Fakten, dass Sechsjährige heute in ihrer Entwicklung fallweise bis zu sechs (!) Jahre auseinanderklaffen - manche liegen um bis zu drei Jahre hinten, andere um bis zu drei Jahre vorne. Es gibt immer mehr Kinder, die in ihrer Entwicklung verzögert sind - gemessen an früheren formalen Standards um bis zu drei Jahre. Eine aktuelle Studie der Universität Linz beschreibt etwa Entwicklungsrückstände von Sechsjährigen, die bereits in früher Kindheit dem intensiven Kontakt mit digitalen Geräten ausgesetzt waren. Immer mehr Kinder sind mit sechs Jahren noch nicht "trocken", weil ihre Eltern kompromisslos auf umfassende "Selbstbestimmtheit" ihrer Kinder setzen und das "Trockenwerden" der Kinder als eine Aufgabe des Kindergartens beziehungsweise der Schule erachten.

Ein dritter, eher neuerer Erkenntnisbereich befasst sich mit den negativen Folgen des Bewegungsmangels und des zunehmend in den Hintergrund gedrängten haptischen Tuns (Grob- und Feinmotorik) der jungen und jüngsten Kinder auf deren kognitive Entwicklung. Kinder lernen zuallererst über Bewegung, später über das Fühlen und erst dann über das Denken. Dieser Problembereich entwickelt sich mittlerweile mit beängstigender Dynamik. Gründe dafür sind überängstliche Eltern - Verletzungsgefahr durch Kinderscheren, Baumklettern, Wettrennen, Bastelmesser, Fahrten mit der U-Bahn ("Schnell, schnell, suchen wir einen Sitzplatz für dich, du könntest umfallen!") oder der ausufernde Kontakt mit digitalen Medien, der nur vordergründig frei von Verletzungsrisiken ist, die Kinder ruhigstellt und daher für die Eltern "bequem" ist.

Kein Problem, das die Migration verursacht hat

Kinder mit signifikanten formalen Entwicklungsrückständen rekrutieren sich stark aus autochthonen Angehörigen der Mittelschicht. Es handelt sich also um kein Problem, das die Migration verursacht hat. Betont werden muss, dass die Entwicklungsschritte der Kinder auch in der Vergangenheit stets individuell und oft genug unerwartet verlaufen sind. Aus diesem Grund sind Tests an Kindern auch nicht prognosefähig und daher weitgehend nutzlos. Dies gilt heute in größerem Ausmaß als jemals zuvor. Daher ist der Begriff "Entwicklungsrückstand" heute generell ein hoch problematischer. Was kennzeichnet heute einen normalen Entwicklungsstand? Diese Frage werthaltig zu beantworten, wird immer schwieriger.

Immer mehr Eltern vertrauen öffentlichen Schulen nicht mehr, was angesichts der teils katastrophalen Leistungsdaten nicht verwundert - bei mehr als 40 Prozent der Pflichtschulabsolventen, die das Lesen, Schreiben und Rechnen nicht alltagstauglich beherrschen, teils leseschwachen Gymnasiasten sowie Maturanten, die die Grundrechnungsarten nicht beherrschen. Diese besorgten Eltern werden von einer durchaus verständlichen Bildungspanik geplagt. Sie trainieren ihre Kinder daher präventiv bereits Jahre vor dem Schuleintritt, sodass diese Schulanfänger mit ihren sechs Jahren die Grundkompetenzen vergleichbar den Kindern aus der dritten (!) Klasse Volksschule beherrschen.

Schule definiert sich zu sehr über Defizite statt über Stärken

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass Früh- und Hochbegabte vom System Schule nach wie vor allzu oft nicht entdeckt und viel zu selten gezielt, aktiv und effektiv gefördert werden. Dies ist eine Folge des verhängnisvollen Phänomens, dass Schule sich immer noch zu sehr über Defizite und nicht über die Stärken der einzelnen Schüler definiert. Auch stellt sich die Frage, ob unser aus dem 18. Jahrhundert stammendes Schulsystem mit dem rigorosen Schuleintrittsalter von sechs Jahren und der gesetzlich normierten Schul- beziehungsweise Unterrichtspflicht heute überhaupt noch zeitgemäß ist. Damals war die Mehrzahl der Eltern kaum lese-, schreib- und rechenfähig - heute weisen die Eltern durchschnittlich einen ungleich höheren Bildungsgrad auf als vor einem Vierteljahrtausend. In der Bildungsentwicklung ihrer jüngeren Kinder könnten sie daher eine bedeutendere Rolle übernehmen, als dies derzeit der Fall ist.

Sechs Jahre Entwicklungsdifferenz bei Sechsjährigen - diese Kluft ist mit Ziffernnoten von 1 bis 5 nicht bewältigbar. Das erkennt alle fachliche Vernunft, die sich ideologischen Einflüssen von welcher Seite auch immer verweigert. Es ist mit dieser Ziffernskala schlichtweg nicht möglich, den Kindern gerecht zu werden. Die Ziffernskala von 1 bis 5 würde zudem das beurteilende Lehrpersonal zwingen, Unzutreffendes wider fachliche Überzeugung in amtlichen Dokumenten, wie es Zeugnisse und Jahresausweise sind, niederzuschreiben. Das kann und muss in aller Deutlichkeit abgelehnt werden, da die Bildungspolitik sie sonst zu Wahrheitswidrigkeiten nötigen würde. Dies ist unwürdig für eine staatliche Bildungseinrichtung, deren verfassungsmäßiges Ziel die Erziehung zum beziehungsweise die Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen ist (Bundesverfassungsgesetz, Artikel 14a). Ziffernnoten können zur Verbesserung der Leistungen der Schule und der Schüler zumindest in den ersten Jahren der Volksschule keinen positiven Beitrag leisten.

Drei Hebel zur Verbesserung der Schulleistungen

Es besteht mittlerweile Konsens über die drei wichtigsten Hebel zur Verbesserung der Leistungen der Schule und damit der Schüler:

Stärkung der Lehrpersonen durch eine bedarfs- und wirkungsgeleitete neue Ausbildung;

eine zielgerichtete, tiefgreifende und unproduktive Kosten (weitgehend sinnfreie Bürokratietsunamis) einsparende Reform des Schulverwaltungsföderalismus, der kurze Wege, effizient kontrollierte Rundum-Autonomie der einzelnen Schulen, klare personelle Zuständigkeiten und eindeutige Verantwortlichkeiten bringt;

die Zuerkennung jener Ressourcen (Unterstützungspersonal), die nötig sind, um der Schule die Bewältigung der zahllosen, eher "schulfernen" gesellschaftlichen Aufgaben zu ermöglichen, die ihr im Laufe der vergangenen Jahrzehnte überantwortet wurden.

Die nötigen finanziellen Ressourcen zur Optimierung sind lukrierbar aus einer mehrfachen Nutzen bringenden Reduktion des derzeitigen, laut einer internationalen Vergleichsstudie für einen Staat mit 66 Millionen (!) Einwohnern ausgelegten Schulverwaltungsföderalismus, der aus der Monarchie stammt. Debatten und Kontroversen über Symbolmaßnahmen - dazu zählen Ziffernnoten für die frühen Volksschulklassen - verbrauchen Energien, blockieren Potenziale und absorbieren öffentliche Aufmerksamkeit, die besser in die vorgeschlagenen und nachweislich wirksamen Problemlösungen investiert werden sollten.

Über die zitierten Problemlösungsoptionen und die genannten Fakten gibt es in großer Zahl und aus allen Kulturräumen weltweit umfassende und deckungsgleiche wissenschaftliche Evidenzen, während man solche über die ergebnisoptimierende Wirkung von Ziffernoten vergeblich sucht. Diesen überprüfbaren Tatsachen sollte sich kein parlamentarischer Bildungs- und Wissenschaftssprecher verweigern.