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Werte existieren nur im Plural

Von Elisabeth Nemeth

Gastkommentare

Philosophische Überlegungen zur Debatte über Werte in der Politik.


Gegen Ende 2015 untersuchte der Schweizer Philosoph Andreas Urs Sommer die damals boomende Rede von Werten in der Politik. Er stellte fest, dass sie inhaltlich sehr vage blieb, zugleich aber größtmögliche Festigkeit und Beständigkeit suggerierte - Stichwort "Wertefundament". Gegen die Vorstellung, Werte könnten wie die Mauern einer mittelalterlichen Stadt verteidigt werden, setzte Sommer die diametral entgegengesetzte Auffassung: Werte gibt es erst nach dem Untergang jener stabilen Welt, die durch die Einheit gemeinsamer Traditionen bestimmt war. Denn Werte existieren nur im Plural, als Ausdruck einer Vielzahl von Lebenseinstellungen und Handlungsorientierungen.

Werte sind in dieser Perspektive ein zutiefst modernes Phänomen. Sie sind nicht statisch, sondern dynamisch. "Werte brauchen keinen Gott. Werte brauchen Geschichte. Werte brauchen Veränderung", so Sommer in "Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt" (Stuttgart 2016). Die Zuwanderung zahlreicher Menschen aus anderen Kulturen sei daher eine große Chance zur Artikulation unterschiedlicher Perspektiven nebeneinander sowie zur Veränderung der eigenen Welthorizonte. "Das bedeutet nicht, die eigenen Werte aufzugeben, sondern ihre Funktionalität immer wieder anzupassen. Eine solche Anpassung ist nötig, weil Menschen im Unterschied zu Bäumen und Steinen bewegliche Wesen sind, die immer wieder den Ort wechseln und neue Perspektiven einnehmen müssen."

Freilich fehlt in Sommers Darstellung der modernen Wertewelt etwas Wesentliches: eine Auskunft darüber, wie die Menschen in einer pluralen Gesellschaft zu den "eigenen Werten" kommen, die sie in Konfrontation mit anderen verändern und anpassen können und sollen.

Veränderbarkeit und Pluralität der menschlichen Welt

Im politischen Denken Hannah Arendts sind die Veränderbarkeit und Pluralität der menschlichen Welt zentrale Motive. Mit jeder Geburt eines Menschen kommt, so Arendt, ein Neuanfang in die Welt, der nicht vorhersehbare Möglichkeiten in sich birgt. Hier gibt es durchaus Parallelen zu dem, was Sommer die "Wurzellosigkeit der menschlichen Wesen" nennt. Freilich hat Arendt das jeweils Neue, Veränderliche und Instabile menschlicher Existenz viel radikaler und konsequenter durchdacht als Sommer.

Gerade weil jeder Mensch einen Neubeginn darstellt, sind, so Arendt, die Menschen darauf angewiesen, eine dauernde menschliche Welt zu schaffen. Sie sind also nicht nur für das Erschließen neuer Handlungsmöglichkeiten und damit der Erweiterung ihrer Welt zuständig, sondern auch dafür, das Bleibende in die menschliche Welt zu bringen, ohne das es kein Neues gäbe. Die Tätigkeit des "Homo Faber", des herstellenden Menschen, schafft Werke, die über das Leben des Einzelnen hinaus dauern: Gebrauchsgegenstände, Geräte und Werkzeuge, wissenschaftliche und Musikinstrumente bis hin zu Büchern, Bildern, Statuen und Kompositionen. Ohne die relative Stabilität dieser Gegenstände gäbe es keine menschliche Welt.

In Anschluss an Arendt hat der Soziologe Richard Sennett eine Konzeption des praktisch tätigen Menschen entwickelt, die jene Lücke füllen kann, die bei Sommer offen geblieben ist. Sennett lenkt in seinem Buch "Handwerk" (Berlin 2008) unsere Aufmerksamkeit auf handwerkliche Fertigkeiten, die uns ermöglichen, "Dinge so herzustellen, dass sie wirklich gut sind". Sie "verweisen auf ein dauerhaftes menschliches Grundbestreben: den Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. Und sie beschränken sich keineswegs auf den Bereich qualifizierter manueller Tätigkeiten. Fertigkeiten und Orientierungen dieser Art finden sich auch bei Programmierern, Ärzten und Künstlern. Selbst als Eltern oder Staatsbürger können wir uns verbessern, wenn wir diese Tätigkeiten mit handwerklichem Geschick ausüben."

Tätigkeiten um ihrer selbst willen gut machen

Wesentlich ist in all diesen Fällen die Ausrichtung des Tuns an Standards, die in der Natur der Tätigkeit selbst liegen. Solche gibt es, so Sennett, beim Mauern ebenso wie beim Kochen, beim Entwurf eines Spielplatzes oder beim Cellospiel. Oder auch beim Eislaufen, Tanzen und Singen, um Beispiele zu nennen, die der Philosoph Ernst Tugendhat in "Egozentrizität und Mystik" (München 2003) unter einer ganz ähnlichen Fragestellung thematisiert hat. Auch Tugendhat hebt hervor, dass der Wunsch, Tätigkeiten um ihrer selbst willen gut zu machen, für Menschen von großer Bedeutung ist.

Er entspringt einerseits dem Bedürfnis nach Anerkennung, auf die Menschen von Geburt an angewiesen sind. Andererseits liegt ihm die Fähigkeit zugrunde, das eigene Tun aus dem Kontext zu lösen, in dem es eingespannt ist: Erstens können wir unser Tun unabhängig von dem damit verbundenen Zweck betrachten - etwa die Zubereitung eines Essens unabhängig vom Zweck, den Hunger der Gäste zu stillen. Zweitens können wir unser Tun auch losgelöst von der Meinung der anderen betrachten: Als diejenige, die die Lasagne zubereitet hat, weiß ich, dass sie weicher geraten ist, als sie sollte - und das weiß ich unabhängig davon, ob meine Gäste sie loben oder nicht. Das Zusammenspiel zwischen dem Wunsch nach Anerkennung durch andere und jenem, das eigene Tun nach Maßstäben, die in der Sache selbst liegen, gut zu machen, hat laut Tugendhat große Bedeutung für die Grundlagen der Moral.

Unsicherheit und Sinnlosigkeit in der Arbeitswelt

Sennett hat seit den 1990ern untersucht, wie sich die Transformation der Arbeitswelt, die damals "New Economy" hieß, auf die Arbeit der Menschen auswirkt. Seine Diagnose war, dass das Arbeitsethos der "Objektivierung", wie er die "handwerkliche Einstellung" auch nannte, im damals neuen "flexiblen Kapitalismus" unterminiert wurde. Angestellte großer Firmen wurden in kurzer Zeit an ganz unterschiedlichen Stellen eingesetzt, zum Beispiel erst in der Buchhaltung, bald darauf im Einkauf, dann im Management des Transports etc. Die Erfahrungen und Kompetenzen, die sie in einer Position erworben hatten, waren in der nächsten fast wertlos. Stolz auf die eigene Arbeit und das Wissen, etwas gut gemacht zu haben, konnten nicht mehr aufkommen. Gefühle des Ungenügens, der permanenten Unsicherheit und Sinnlosigkeit machten sich breit. Was Sennett damals für einen kleinen Teil der Arbeitswelt in den USA beschrieb, ist inzwischen weit verbreitet und hat längst hohe Managementpositionen erreicht.

Eine Ursache für die von Sommer diagnostizierte Hohlheit der politischen Rede von Werten könnte darin liegen, dass den meisten Menschen die Erfahrung politischer Tätigkeit fehlt. Haben Parteien und Gewerkschaften im 20. Jahrhundert die Erfahrung politischen Tuns den Menschen ansatzweise ermöglicht, weist vieles darauf hin, dass sie das heute kaum noch leisten können. Dabei gilt für politische Tätigkeit dasselbe wie für andere Tätigkeiten: Nur dem praktisch tätigen Menschen erschließen sich - gleichsam von innerhalb seines Tuns her - die Standards von Qualität, die "in der Sache selbst" liegen. Diese Innenperspektive politischen Handelns ist den meisten Menschen heute unbekannt. Ihre politische Erfahrung beschränkt sich auf das Wählen von Politikern, die plakative Statements wiederholen. Das Fehlen der Erfahrung, worin politische Willensbildung besteht und wie sie erreicht wird, führt zu einer Erosion des Politischen - und wir wissen, wie gefährlich das für unsere Gemeinwesen ist.

Gemischte Formenpolitischer Willensbildung

Vor diesem Hintergrund sind international diskutierte Modelle gemischter Formen politischer Willensbildung ("bi-repräsentative Systeme") interessant. So schlägt David von Reybrouck vor, den gewählten Parlamenten Parlamentskammern an die Seite zu stellen, deren Mitglieder für eine bestimmte Zeit durch Los bestimmt werden. Diese sollen Vorschläge zu politischen Fragen erarbeiten, die die Grundlage der parlamentarischen Arbeit bilden. Als erfolgreiches Beispiel gilt die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Irland. Die Verfassungsänderung wurde von einer Versammlung diskutiert, die zu einem Drittel aus ParlamentarierInnen und zu zwei Dritteln aus zufällig ausgelosten Menschen bestand. Das Ergebnis, das der Volksabstimmung vorgelegt wurde, fand - zur internationalen Überraschung - 62 Prozent Zustimmung.

Die Attraktivität solcher Modelle liegt darin, dass sie gesellschaftliche Räume schaffen, in denen Menschen mit unterschiedlichsten Lebenseinstellungen Politik als Tätigkeit erfahren können, in der es um die "Sache des Politischen selbst" geht: das heißt, einen möglichst tragfähigen politischen Willen zu formulieren. Angesichts der offenkundigen Tatsache, dass sich die gewählten Politiker (nicht nur hierzulande) als völlig hilf- und planlos erweisen, wenn es darum geht, den großen Herausforderungen unserer Zeit (Stichwort Klimawandel) angemessen zu begegnen, werden wir neue Formen politischer Willensbildung dringend brauchen.

Veranstaltungstipp:

42. Wittgenstein-Symposion
"Krise und Kritik", 4. bis 10. August 2019 in Kirchberg am Wechsel www.alws.at/symposium/42nd-international-wittgenstein-symposium-2019