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Das beschränkte Denken der Finanzexperten

Von Paul Kellermann

Gastkommentare

Der Diskussion über die Moderne Geldtheorie fehlt die Vielfältigkeit.


"Wir machen uns zu viele Gedanken über Staatsschulden, aber zu wenig über Arbeitslosigkeit." Mit diesem Zitat war jüngst ein Interview mit dem US-Ökonomen Warren Mosler in der "Wiener Zeitung" über die Moderne Geldtheorie betitelt. In diesem Fall wie allgemein gilt: Wenn über einen vielfältigen Zusammenhang nur einfältig diskutiert wird, kann endlos diskutiert werden. Das trifft offensichtlich auch auf Diskussionen über diese angeblich moderne Geldtheorie zu. Einfältig wird aktuell über Staatsschulden und "Gelddrucken" der Zentralbanken gestritten. Um der gegebenen Vielfältigkeit gerecht zu werden, in die der Geldgebrauch eingebettet ist, müsste eine umfassende Wirtschafts- oder noch besser: eine umfassende Gesellschaftstheorie berücksichtigt werden.

Der Grund für das beschränkte Denken liegt in der erreichten extremen Arbeitsteilung, bei der die Experten all ihre Energie auf ihr Fachgebiet konzentrieren, mit der Folge, dass immer mehr Details und immer weniger Zusammenhänge bedacht werden. Mosler ist anscheinend kein solcher Experte: Er soll Ökonom, Autodesigner und Hedgefonds-Gründer sein, hat also einen breiteren Gesichtskreis. Er berücksichtigt folglich nicht nur die Geldtheorie, sondern auch die Situation der Arbeitslosigkeit (gemeint wird mit diesem unzutreffenden Ausdruck der Zustand, nicht erwerbstätig zu sein). Allerdings ist auch seine Sicht nicht umfassend genug.

Das Wirtschaftssystem besteht aus Produktion, Distribution und Konsumtion. Für das Subsystem Produktion ist das Leistungsvermögen (Kapazität der Produktionsmittel) wesentlich; für das der Distribution sind Geldverfügbarkeit, entsprechende Verteilungsorganisationen und Märkte entscheidend; für den Konsum ist es der Bedarf (privat und öffentlich).

Geld als ausgleichendes Steuerungsmittel

Für einen ungefähren Ausgleich von Bedarf, entsprechender Geldverfügbarkeit und Leistungsvermögen ist Geld das Steuerungsmittel. Geldpolitik, wie sie derzeit von den Zentralbanken betrieben wird, kann allerdings die erwünschten Ziele (zum Beispiel 2 Prozent Inflation im Fall der EZB) nicht erreichen, wenn die "kommunizierenden Röhren" Produktionskapazitäten, Bedarfsstruktur und Geldverfügbarkeiten nicht in ihrem gegenseitig abhängigen Zusammenhang berücksichtigt werden.

Dass Geld im Prinzip als jenes Steuerungsinstrument genutzt werden kann, beruht auf der Tatsache, dass wir in Geldgesellschaften leben: Mehr oder weniger alles, was wir brauchen oder besitzen wollen, muss bezahlt werden; über Geld verfügen zu können, ist eine existenzielle Voraussetzung. Und über Geld verfügen zu können, setzt legitimerweise seinerseits eigenes Tun voraus - in der Regel: eigene, nachgefragte Leistungen. Geld wurde auf diese Weise zumindest "zweifältig": Es ermöglicht, Leistungen anderer zu kaufen, und es zwingt dazu, selbst Leistungen zu erbringen. Der entscheidende Grund für diese Eigenschaften von Geld ist die Arbeitsteilung, die mit ihrer Entfaltung die gegenseitige Abhängigkeit vergrößert. So bietet Geld beides: Freiheit und Unfreiheit.

Das seit Jahren von den verschiedenen Zentralbanken massenhaft in Umlauf gebrachte Geld unterscheidet sich nur geringfügig von Bitcoins und ähnlichen Kryptowährungen: Jenes virtuelle Geld ist Falschgeld, weil es nicht durch eigene Wirtschaftsleistungen gedeckt wird, sondern scheinbar legitim die Leistungen anderer Produzenten beanspruchen kann. (Vielleicht erfordert es zu seiner Herstellung etwas mehr Aufwand als analoges Falschgeld.) Und das massenweise zur Verfügung gestellte Zentralbankgeld entweicht zum größten Teil in den Finanzhimmel von Aktien, Zertifikaten, Derivaten etc. Inwieweit diese Geldmengen von realen Leistungen gedeckt sind oder die nächste Geld- und Wirtschaftskrise befeuern, böte Stoff für weitere einfältige Diskussionen.

Vernünftig wäre es, sich mit den vielfältigen Zusammenhängen auseinanderzusetzen und dabei beispielsweise auch das in Planung befindliche Facebook-Zahlungsmittel Libra auf seine vielfältigen Wirkungen hin zu untersuchen. Eines scheint aber schon feststellbar zu sein: Die vielen Funktionen von Geld werden nicht mehr im Zusammenhang mit seinem Wesen wahrgenommen, wovon in letzter Konsequenz seine Zahlfunktion abhängt (Geld ist ein dokumentiertes Symbol für Leistungsversprechen beziehungsweise Leistungsanspruch). Wenn für die zur Verfügung gestellten Geldmittel bei Bedarf und Nachfrage nicht in entsprechenden Mengen Güter und Dienste gekauft werden können, weil diese Mengen nicht als Waren angeboten werden, entstehen Inflation, "galoppierende" Inflation und schließlich der Kollaps des Systems.

Genau genommen ist das Wirtschaftssystem mit seinen Subsystemen auch nur ein Teilgebiet der gesellschaftlichen Wirklichkeit - Kultur, Politik, Soziales, Recht, Medizin und andere Systeme oder Lebenswelten hängen in Wahrheit natürlich mit Geld und Wirtschaft vielfältig zusammen.