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Die nächste Krise lauert hinter jeder Ecke

Von Carsten Brzeski und Inga Fechner

Gastkommentare

Die "Japanifizierung" der Eurozone: Vom Schreckensbild zur Wirklichkeit.


Schon seit einigen Jahren befinden sich Wirtschaft und Inflation in der Eurozone auf einem niedrigen Niveau - und das trotz Niedrigzinsen und lockerer Geldpolitik seitens der Europäischen Zentralbank (EZB). Tatsächlich sind Inflationserwartungen und Renditen in der Eurozone aktuell noch niedriger als zu Beginn der unkonventionellen Geldpolitik mit Negativzinsen und reichlicher Versorgung mit Liquidität. Dieses Umfeld - bestehend aus niedriger Inflation, niedrigen Zinsen und niedrigem Wachstum in Verbindung mit einer anhaltend lockeren Geldpolitik - ähnelt auffallend jenem Japans. Befindet sich die Eurozone also auf dem Weg der "Japanifizierung"?

In Japan führte eine Mischung aus Finanzderegulierung, sinkenden Kreditstandards, niedrigen Zinsen, billigem Geld und ständig steigenden Vermögenswerten zu einer Aktienmarkt- und Immobilienpreisblase, die letztlich in einer Bankenkrise endeten. Seit den 1990er Jahren kämpft Japan mit einer extrem hohen Staatsverschuldung und sehr niedrigen Inflations- und Wachstumsraten.

Frappierende Ähnlichkeiten mit Japan Anfang der 1990er

Auch die Eurozone befindet sich in einem Umfeld niedriger Inflation. Zwar dürfte diese struktureller Art sein - Ersparnisschwemme, Globalisierung und Digitalisierung, all das hat in den 1990er und 2000er Jahren zu einem allgemeinen Rückgang der Inflation und des Zinsniveaus geführt, was über eine reine "Japanifizierung" hinausgeht. Doch darüber hinaus zeigt die Eurozone frappierende Ähnlichkeiten mit Japan Anfang der 1990er Jahre. Aus einer Finanzkrise wird eine Wirtschaftskrise, die sich dann in eine Bankenkrise und schließlich in eine existenzielle Krise verwandelt.

Das "Japanifizierungsmodell", wir auf der Grundlage einer Studie von Takatoshi Ito von der Columbia University erstellt haben, unter Berücksichtigung von Wirtschaftswachstum, Inflation, kurzfristigen Zinssätze und demografischem Wandel, zeigt, dass die Wirtschaft der Eurozone ihren "normalen" Wachstumspfad nach der globalen Finanzkrise verlassen hat und in den "Japanisierungsbereich" eingetaucht ist, den Japan seit einem Vierteljahrhundert nicht verlassen hat.

Tatsächlich weist die Entwicklung der Eurozone zwischen 2009 und 2018 einen hohen Grad an "Japanifizierung" auf. So stieg der öffentliche Schuldenstand in Japan in den 1990er Jahren um mehr als 25 Prozent des BIP, während er in der Eurozone im Durchschnitt um rund 20 Prozent des BIP anstieg. Sowohl die japanischen Banken als auch jene der Eurozone haben in den Krisenjahren einen riesigen Haufen notleidender Kredite angesammelt, die Quote für ausfallgefährdete Kredite lag in Japan im Jahr 2001 bei 8,4 Prozent, die Quote in der Eurozone betrug 2012 auf dem Höhepunkt der Staatsschuldenkrise 8,1 Prozent. In beiden Ländern musste der Finanzsektor durch hohe Kapitalspritzen unterstützt werden.

Ein oft genannter struktureller Faktor für die Verlangsamung der japanischen Wirtschaft ist zudem die Alterung der Gesellschaft. Tatsächlich ist die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) in Japan seit Mitte der 1990er Jahre rückläufig, während die Bevölkerungszahl insgesamt ab 2011 zu sinken begann. Obwohl die Eurozone noch etwas mehr Spielraum hat, ist auch hier die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter seit 2009 rückläufig.

Eine wichtige Lektionfür die Eurozone

Wird sich die Eurozone also in den nächsten Jahren so entwickeln wie Japan seit Anfang der 2000er? Auch wenn die Erfahrungen Japans in den 1990ern gravierend waren, reichen sie nicht aus, um das anhaltend gedämpfte Wirtschaftswachstum in Japan bis heute zu erklären. Die Zeit war nicht auf Japans Seite. Denn die Erholung der japanischen Wirtschaft wurde durch drei große Ereignisse zurückgeworfen: die Asien-Krise 1997/1998, das Platzen der Dotcom-Blase 2000/2001 und schließlich die globale Finanzkrise 2008/2009. Wann immer es so aussah, als ob die japanische Wirtschaft die Talsohle erreicht hatte, kam der nächste externe Schock.

Das ist eine wichtige Lektion für die Eurozone: Die nächste Krise lauert hinter jeder Ecke. Ohne eine starke wirtschaftliche Erholung ist es schwierig, sich dem niedrigen Wachstum, der niedrigen Inflation und dem damit verbundenen niedrigen Zinsumfeld zu entziehen. Dann könnte die Geldpolitik nicht mehr genügend Munition im Ärmel haben, die Zinsen bleiben auch für die kommenden Jahre an der Nulluntergrenze hängen. Die wichtigste Lektion für die Eurozone liegt daher auch nicht so sehr in den Ursachen der "Japanifizierung", sondern vielmehr darin, wie man diese überwinden kann. Welche Entwicklungen könnte die Eurozone daher in Kürze erleben, wenn wir auf Japan schauen?

Schrumpfkur: Nach einer ersten Welle der Bilanzerweiterungen haben Finanzinstitute und Unternehmen trotz lockerer Geldpolitik Bilanzsummen wieder abgebaut. Sowohl Kredite an Unternehmen als auch an private Haushalte gingen in Japan zurück und sind Wachstumsbremsen.

Geldpolitische Expansion: Gleichzeitig hat sich die Zentralbankbilanz aufgebläht: In den vergangenen zehn Jahren ist die Bilanz der Bank of Japan um mehr als 75 Prozent des BIP gestiegen. Jene der EZB ist bisher um knapp 20 Prozent des BIP gestiegen. In Japan kauft die Notenbank mittlerweile schon Aktien. Auch die EZB hat gerade erst eine neue Welle geldpolitischer Lockerungen in Aussicht gestellt.

Mehr Schuldenpolitik: Auch die Finanzpolitik wurde in Japan exzessiv eingesetzt: In den vergangenen zehn Jahren stieg der öffentliche Schuldenstand von 183 Prozent des BIP im Jahr 2008 auf 236 Prozent im Jahr 2018. Der Staatshaushalt weist seit 26 Jahren Defizite auf, unzählige Steuerpakete zur Stimulierung der Wirtschaft wurden bereits aufgelegt.

Höhere Pensionsantrittsalter: Während die Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren zurückgegangen ist, sind ältere Arbeitnehmer und Frauen in Japan im Erwerbsbevölkerungspool geblieben oder diesem beigetreten. Die Beschäftigung in Japan wächst seit sieben Jahren, da das effektive Pensionsantrittsalter auf fast 70 Jahre gestiegen ist. Auch Robotik und Automatisierung sind in Japan weit fortgeschritten und halten das Pro-Kopf-BIP auf hohem Niveau. All dies bedeutet, dass die erwartete Lohn-Preis-Spirale als Folge eines Arbeitskräftemangels nie stattgefunden hat. Das ist eine weitere wichtige Lektion für die Eurozone: Ohne diese Entwicklungen oder Maßnahmen könnte aus einer Stagnation rasch eine Stagflation werden.

"Japanifizierung" muss nichtper Definition schlecht sein

Trotz allem muss eine "Japanifizierung" der Eurozone nicht per Definition etwas Schlechtes sein. Japan ist weiterhin, gemessen am nominalen BIP, die drittgrößte Volkswirtschaft und eine der innovativsten und digitalsten Volkswirtschaften der Welt. Dank der Steuerpakete der Regierung verfügt Japan zudem über eine moderne und gut gepflegte Infrastruktur. Gleichzeitig ist es aber auch eine relativ homogene Gesellschaft. In der heterogenen Eurozone können politische Spannungen innerhalb und zwischen den Ländern aufgrund unterschiedlicher Interessen, wirtschaftlicher Entwicklungen und des umstrittenen Einsatzes der Fiskalpolitik dagegen zunehmen. Insbesondere die Diskussion über die Rolle der Fiskalpolitik, die Wirtschaft zu stabilisieren oder anzukurbeln, hat eindeutig das Potenzial für größere Konflikte in der Eurozone als in Japan.

Die derzeitige Situation und die Aussichten auf eine Art "Japanifizierung" stützen unsere Einschätzung, dass die Zinsen noch viel länger niedriger bleiben werden. Für die Eurozone sind die Lehren aus der "Japanifizierung" der Zukunft wichtiger als die Lehren aus der Vergangenheit. Denn die japanische Geschichte zeigt, dass es sehr schwierig für die Eurozone sein wird, einem Umfeld mit niedrigem Wachstum und niedriger Inflation zu entkommen, ohne finanzpolitische Impulse zu setzen. Für die EZB bedeutet das, dass über den kurzfristigen Zeithorizont hinaus, gespickt mit handelspolitischen Unsicherheiten und potenziellen Zinssenkungen seitens der US-Zentralbank, in den kommenden Jahren nicht viel Raum für Zinserhöhungen bleiben wird. Jede neue Krise oder Rezession wird die "Japanifizierung" der Eurozone noch verstärken.