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Die Höchstgerichte halten Europa zusammen

Von Gerfried Sperl

Gastkommentare

Die Qualität der Verfassungsrichter steht in einem Wettbewerb mit den populistischen Volkstribunen. Die Parteien haben nahezu ausgespielt.


Die Turbulenzen der täglichen europäischen und nationalen Politik verstellen den Blick auf die wachsende Bedeutung der Höchstgerichte, vor allem der Verfassungsgerichtshöfe und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Dessen juristisches Selbstbewusstsein setzt sogar der Macht führender Staaten Grenzen, wie zuletzt bei der von Österreich beantragten Ablehnung einer deutschen Maut für ausländische Fahrzeuge.

Das Modell für diese Entwicklung ist der Supreme Court in den USA, dessen Mitglieder (nach Tod oder Rücktritt ihrer Vorgänger) vom gerade amtierenden Präsidenten vorgeschlagen und vom Kongress akzeptiert oder abgelehnt werden. Sie trafen fast immer gesellschaftspolitische Entscheidungen historischer Tragweite wie 1967 die Aufhebung des Verbots von Ehen zwischen Schwarzen und Weißen oder 1973 die heute noch umstrittene Genehmigung von Abtreibungen (Roe v. Wade). Die religiöse Prägung der US-Amerikaner und die wachsende Zahl konservativer Verfassungsrichter würde heute solche Wendungen erschweren.

In Österreich hat der Verfassungsgerichtshof zuletzt - einer deutschen Entscheidung folgend - ein "drittes Geschlecht" etabliert, das auch in den offiziellen persönlichen Dokumenten eingetragen wird. In der mitteleuropäischen Entwicklung der vergangenen Jahre mit wachsendem populistischen und nationalistischen Druck ist das eine den Wahltrends zuwiderlaufende Entscheidung. Sie wurde zwar von der FPÖ scharf kritisiert, es gab aber weder heftige Reaktionen noch öffentliche Demonstrationen.

2016 hob nach einer Anfechtung durch die Freiheitlichen das Verfassungsgericht die Hofburg-Stichwahl auf. Die Neuaustragung brachte nicht den erhofften konservativ-nationalen Umschwung zugunsten Norbert Hofers, sondern einen klaren Sieg des grün-liberalen Präsidentschaftskandidaten Alexander Van der Bellen.

Bei Wahlen rechts, im Grundsatz aber links-liberal

Kaum untersucht ist bisher die dahinter liegende Fragestellung: Warum tickt Österreich bei parteipolitischen Wahlen rechts, neigt jedoch bei gesellschaftspolitischen Grundsatzantworten zur linken liberalen Mitte? Das führt zur nächsten Frage, die einer Antwort harrt: Haben die Mitglieder der Höchstgerichte ihr Ohr näher beim Volk als jene Parteien, die sich dauernd als deren Stellvertreter wähnen und bühnenreif darstellen?

Auf jeden Fall folgt daraus die These, dass die unabhängige Justiz in ihrer schon Jahrhunderte währenden Entwicklung in Kombination mit der westlichen liberalen Demokratie (und natürlich auch mit den juristischen Wissenschaften) ihre heutige hohe Qualität gefunden hat.

Die zweite Folge (oder sogar Voraussetzung) ist der Niedergang der Parteiendemokratie und der gleichzeitige Aufstieg der "populistischen Demokratie", wie Nadia Urbinati in ihrem Essay im Buch "Wenn Demokratien demokratisch untergehen" (Passagen Verlag) gezeigt hat. Sie stellt das auch in einen Zusammenhang mit den Sozialen Medien, wo "traditionelle Parteien und akkreditierte Medien als Hindernisse für die Demokratie dargestellt werden. Bürger könnten sie dank Internet überwinden. Die Auslöschung der traditionellen Parteienstruktur sei ein notwendiger Schritt hin zu einer fluideren Politik."

Im Programm der italienischen Fünf Sterne wird die "digitale Demokratie" als eine fortgeschrittene Stufe der "monitory democracy" (Zitat Urbinati) bezeichnet. Das umschreibt vor allem die Arbeits- und Lebensweise der jüngeren Wählerinnen und Wähler. Die Älteren (zu mehr als 80 Prozent kennen sie sich im Internet nicht aus) kreuzen auf ihrem Stimmzettel zunehmend eine "Nichtparteienpartei" an, womit rechtspopulistische oder neu formierte Parteien oder Bewegungen mit einer Kristallisationsfigur gemeint sind.

Attacken auf Medienund unabhängige Justiz

Traditionelle Parteien sind letztlich nur durch ihre Ideologie und ihre Organisation als Hüter der Parteigrenzen zusammenzuhalten. Heutzutage wird "dem Populismus die Sache dadurch erleichtert, dass politische Parteien selbst im Laufe der Zeit nicht nur ihre Legitimität eingebüßt, sondern auch ihre Ziele und Botschaften entideologisiert haben", schreibt Urbinati.

ÖVP-Chef Sebastian Kurz nutzt dabei, im Vergleich zu Jörg Haider, aber auch zu Viktor Orbán oder Matteo Salvini, den Vorteil eines "ideologiefreien Politikers", wie es der Grünen-Politiker Werner Kogler beim Wahlkampfauftakt seiner Partei nannte. Er bedient sich zunehmend des Mythos eines demokratischen Monarchen, der von Umfragen getragen wird und nicht mehr vom Image seiner Partei. Er knüpft damit an die via Devotionalien und nostalgische Musik wie Literatur nach wie vor starke Unterströmung der Habsburger-Monarchie an. Seine Ähnlichkeit mit dem jungen Kaiser Franz Joseph I. ist nicht nur ein Randaspekt, der das Restaurative seiner Politik unterstreicht.

Autoritären Machtpolitikern geht der Umschwung nicht schnell genug. Zur Strangulierung der Demokratie attackieren sie vor allem die kritischen Medien und die unabhängige Justiz. Parteien, so sie nicht über breite Wählergruppen verfügen, sind eher eine "quantité negligeable". Den Machthabern stößt jedoch sauer auf, dass selbst Parteiexponenten nach ihrer Nominierung als Höchstrichter oftmals in eine unabhängige Rolle finden.

Ein Meilenstein für die Bedeutung der Gewaltenteilung

Die EU-Kommission in Brüssel unterstreicht dies nach langem Zögern. Ihr Entschluss, mit Hilfe des EuGH die Pensionierung und Degradierung der polnischen Richterschaft aufzuheben, ist ein Meilenstein für die Bedeutung der Gewaltenteilung in der EU. Dieser Vorgang strahlt vor allem auf Südosteuropa aus, ist aber auch eine Vorsorge-Maßnahme für das historische Mitteleuropa.

Kritik an der wachsenden Macht der Höchstrichter - hier populistische Möchtegern-Politiker, dort Autorität im Talar - kommt auch relativ unerwartet von der politischen Theorie. Die US-Politologin Wendy Brown (University of California) kritisiert, Höchstgerichte würden oft nicht mehr entscheiden, was erlaubt oder was verboten sei, sondern was getan werden müsse. Diese Art der Spruchpraxis stelle die Rechtsprechung als Funktion unterhalb der Gesetzgebung auf den Kopf. Damit werde eine vom Volk nicht direkt ermächtigte Institution offen politisiert.

In Österreich ist diese Entwicklung des Verfassungsgerichts hin zur höchsten überparteilichen Institution auch im Gefühl der gebildeten Schichten sicherlich einer der Gründe, warum der Bundespräsident die bisherige VfGH-Präsidentin Brigitte Bierlein zur unumstrittenen, interimistischen Bundeskanzlerin machte. Und die Entscheidung des EuGH zugunsten Österreichs in einer wichtigen Verkehrsfrage hat der Bevölkerung (vor allem in Österreichs westlichen Bundesländern) die Botschaft vermittelt, dass Höchstgerichte nicht nur einen Staat, sondern ganz Europa zusammenhalten vermögen.