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Der Zwang zum höheren BIP

Von Mathias Binswanger

Gastkommentare
Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz und gehört laut Ranking der "Neuen Zürcher Zeitung" zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz (Buchtipp: "Der Wachstumszwang", Verlag Wiley-VCH).
© privat

Das stetige Wirtschaftswachstum hat in vielen Ländern einen materiellen Wohlstand geschaffen, von dem frühere Generationen nur träumen konnten. Über lange Zeit leistete das Wirtschaftswachstum deshalb auch einen positiven Beitrag zum Wohlbefinden der meisten Menschen, und in vielen Ländern der Erde ist dies auch weiterhin der Fall. Im Vergleich zu früher können wir uns heute eine unglaublich luxuriöse Lebensweise leisten und leben im Durchschnitt wesentlich länger und gesünder als früher.

Doch in jüngster Zeit wird es in den wohlhabenden Ländern in Westeuropa, Nordamerika und Japan zunehmend fraglich, ob das Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) noch einen Beitrag zum Wohlbefinden der Menschen leistet. Wie viele Untersuchungen aufzeigen, führt dort weiteres Wirtschaftswachstum nicht mehr dazu, dass die Menschen im Durchschnitt glücklicher oder zufriedener werden.

In diesen Ländern werden sich die Menschen zunehmend bewusst, dass Wirtschaftswachstum zwar das Versprechen von steigendem materiellen Wohlstandes einlösen kann, aber trotzdem wesentliche Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Tendenziell gilt: Je höher der materielle Wohlstand eines Landes bereits ist, umso weniger trägt ein weiterer Anstieg dieses Wohlstandes noch zur Steigerung des durchschnittlichen subjektiven Wohlbefindens bei.

Doch es geht nicht nur um den fehlenden Einfluss des Wachstums auf das subjektive Wohlbefinden der Menschen. Seit den 1970er Jahren traten zunehmend auch die Schattenseiten des Wirtschaftswachstums vor allem in Form von Umweltbelastungen und Übernutzung von natürlichen Ressourcen in Erscheinung. Zwar gelang es in der Folge, das Wachstum umweltschonender und weniger ressourcenintensiv zu gestalten, doch es hatte seine ökologische Unschuld verloren. Vor allem die CO2-Emissionen aus der Verbrennung von fossilen Brennstoffen und die damit verbundene Klimaerwärmung sind seit mehr als 30 Jahren ein Dauerthema, das die ökologische Kritik am Wachstum am Laufen hält.

Weiteres Wirtschaftswachstum ist nicht mehr notwendig

Deshalb fordert eine ganzen Reihe von ökologisch orientierten Ökonomen und Aktivisten aus ökologischen Gründen eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum. Vereinfacht wird dabei meist folgendermaßen argumentiert. Wir haben heute einen so hohen materiellen Wohlstand erreicht, dass ein weiteres Wirtschaftswachstum nicht mehr notwendig ist. Auf der anderen Seite nehmen aber negativen Folgen dieses Wachstums immer mehr zu, da wir mit dem Wirtschaftsprozess Raubbau an der Natur betreiben und die Umwelt schädigen. Also, so argumentiert man weiter, sollte die Wirtschaft in einer zukünftigen Postwachstumsgesellschaft nicht mehr auf Wachstum ausgerichtet sein, sondern stattdessen andere Ziele wie Nachhaltigkeit oder Lebenszufriedenheit der Menschen in den Vordergrund stellen. Einige Autoren gehen sogar noch weiter und fordern ein negatives Wachstum (Degrowth).

Solche Kritik am Wirtschaftswachstum setzt stillschweigend voraus, dass dieses für heutige Wirtschaften eine Option, aber keine Notwendigkeit darstellt. Die Wirtschaft würde auch ohne Wachstum funktionieren, und eine Abkehr ist nur eine Frage des politischen Willens beziehungsweise der richtigen Setzung von Anreizen. Die zentrale Botschaft meines soeben erschienenen Buches "Der Wachstumszwang" lautet aber, dass dies in heute existierenden kapitalistischen Wirtschaften nicht möglich ist. Diese funktionieren nur solange, wie es auf makroökonomischer Ebene ein Wirtschaftswachstum gibt.

Die Betonung "auf makroökonomischer Ebene" ist deshalb wichtig, weil der Wachstumszwang für das einzelne Unternehmen nicht in gleicher Weise gilt. Auf Unternehmensebene geht es vor allem darum, möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Eine genauere Analyse der Funktionsweise kapitalistischer Wirtschaften zeigt, dass der gesamte Unternehmenssektor auf die Dauer nur dann Gewinne erzielen kann, wenn gleichzeitig ein reales Wirtschaftswachstum stattfindet. Oder anders ausgedrückt: Nur solange das BIP wächst, ist eine Mehrheit der Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich. Findet kein Wachstum mehr statt, werden aus Gewinnen Verluste, und die Wirtschaft gerät in eine Abwärtsspirale. Es gibt also nur die Alternativen Wachsen oder Schrumpfen. Und um eine Schrumpfung zu vermeiden, muss die Wirtschaft weiterwachsen.

Engpass bei den Konsumenten: von Treibern zu Getriebenen

Wir sind also letztlich Gefangene eines Systems, das uns zu permanentem Wachstum zwingt. Immer weniger sind es ungesättigte Bedürfnisse, die das Wachstum in entwickelten Volkswirtschaften antreiben, sondern das Bemühen der Unternehmen, stets neue Wachstumspotenziale zu schaffen. Rein technologisch ist dies kein Problem. Der technische Fortschritt ermöglicht eine ständige Mehrproduktion, und die kommende Digitalisierung der Wirtschaft wird die Arbeitsproduktivität aller Voraussicht nach noch einmal gewaltig erhöhen. Der Engpass liegt bei den Konsumenten, die von Treibern zu Getriebenen des Wachstums geworden sind, indem man ständig versucht, sie zu weiterem Konsum zu animieren.

In Ländern wie Deutschland oder der Schweiz wird Wachstum deshalb auch immer weniger damit begründet, dass es den Menschen in Zukunft noch besser gehen soll. Stattdessen wird uns das Wachstum als Zwang präsentiert, denn bei geringem oder ausbleibendem Wachstum würden wir gegenüber anderen Ländern zurückfallen, als Wirtschaftsstandort unattraktiv werden, an Innovationskraft einbüßen und vor allem Arbeitsplätze verlieren. Also müssen wir weiterwachsen, auch wenn wir das in hochentwickelten Ländern, gar nicht mehr zwingend wollen.

Der Zwang kommt auch zum Ausdruck in der Regierungserklärung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 10. November 2009, als im Bundestag verkündete: "Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen. Und umgekehrt: Mit Wachstum Investitionen, Arbeitsplätze, Gelder für die Bildung, Hilfe für die Schwachen und - am wichtigsten - Vertrauen bei den Menschen."

Mit andern Worten: Wachstum ist notwendig, um wirtschaftlich erfolgreich zu bleiben und Ar-beitsplätze sowie unsere Sozialsysteme zu erhalten. Genau das ist der Wachstumszwang.

In kapitalistischen Wirtschaften ist eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum gar nicht möglich. Statt mit steigendem Wohlstand wird heute mit der Gefahr von Jobverlusten argumentiert.