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Worte beschreiben das Leiden nicht

Von Anne-Cecilia Kjaer

Gastkommentare
© MAS/Jérôme Tubiana

Augenzeugenbericht einer Krankenschwester nach dem jüngsten Flüchtlingsunglück im Mittelmeer mit mindestens 100 Toten.


In der vergangenen Woche kam es erneut zu einem schweren Bootsunglück im Mittelmeer. Mehr als 100 Menschen wurden danach vermisst, Augenzeuginnen und Augenzeugen berichteten von mindestens 70 Leichen im Wasser.

Am Morgen erhielten wir einen Anruf, dass Menschen zur Militärbasis in Choms gebracht wurden. Kurz darauf kamen wir mit unserem vierköpfigen Team an. Etwa 80 Menschen waren dort, die meisten aus Eritrea, dem Sudan, Ägypten und Bangladesch. Es war sehr heiß. Die Menschen saßen an eine Wand im Schatten gelehnt. Sie hatten kaum Kleidung an. Einige trugen nur ein Handtuch oder Unterwäsche. Sie standen unter Schock.

Wir identifizierten die medizinischen Notfälle: Einige der Geretteten hatten viel Meerwasser geschluckt und eingeatmet, konnten nur schwer atmen. Sie waren in einem sehr kritischen Zustand. Die Menschen lagen auf dem Boden, die Haut und Lippen aufgrund des Sauerstoffmangels blaugrau verfärbt. Es ging ihnen wirklich sehr schlecht. Unsere Ärztin untersuchte die Menschen mit den dringendsten Problemen, wir legten Infusionen, riefen einen Krankenwagen und überwiesen sieben Menschen in Krankenhäuser vor Ort.

Ein Vater musste seine Familie sterben sehen

Ein Mann aus dem Sudan, der buchstäblich aus dem Wasser gezogen wurde, erzählte unserem Team, dass er mitansehen musste, wie seine Frau und seine Kinder ertranken. Fassungslos und in Schockstarre saß er da.

Als sich die Lage etwas beruhigte, gingen wir zu jedem, um weniger akute medizinische Beschwerden zu untersuchen und Wasser und Notnahrung zu verteilen. Die Geretteten waren sehr durstig. Mehrere Stunden waren vergangen, seitdem das Boot zu sinken begonnen hatte. Die Temperatur lag bei rund 40 Grad.

Die Menschen hatten kleine Wunden und Magenschmerzen vom Schlucken des Meerwassers. Sie waren erschöpft und traumatisiert. Diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, befanden sich schon lange in den Händen von Menschenhändlern. Ihr Zustand war schlecht, sie sahen mangelernährt aus und schienen unter Blutarmut zu leiden.

Die Überlebenden erzählten uns, dass sie am Mittwochabend bei Sonnenuntergang die libysche Küste verlassen hatten, wahrscheinlich in drei aneinander festgebundenen Booten. Einige berichteten, ihr Boot wurde beschädigt und es gelangte Wasser hinein. Sie konnten die Fahrt nicht fortsetzen und versuchten, umzukehren. Sie seien nur ein paar Kilometer vom Ufer entfernt gewesen, als das Wasser im Boot stieg.

Mindestens 70 Leichen im Wasser

Als sie weiter Richtung Küste fuhren, begann das Boot zu sinken. Die meisten Kinder konnten nicht schwimmen, und selbst diejenigen, die schwimmen konnten, waren zu erschöpft und gingen unter. Laut Augenzeugen trieben mindestens 70 Leichen im Wasser. Die Überlebenden wurden von Fischern gerettet, die sie nach Choms zurückbrachten. Berichten zufolge befanden sich mindestens 300 Menschen auf den Booten, darunter 50 Frauen und Kinder. Rund 100 weitere Menschen sollen auf einem anderen Boot gewesen sein.

Kurz nach ihrer Ankunft in Choms wurde eine zweite Gruppe von 53 Überlebenden in den Hafen gebracht. Ein anderes Team von Ärzte ohne Grenzen leistete an der Anlegestelle Nothilfe. Um 1 Uhr Früh wurde eine weitere Gruppe von etwa 190 Menschen zurückgebracht. Möglicherweise wurden sie von der libyschen Küstenwache abgefangen. Die meisten von ihnen kamen aus dem Sudan, Eritrea und Somalia. Auch ein Kind war dabei.

Wieder verteilten wir Nahrung und Wasser und untersuchten die Menschen. Es war nicht klar, ob sie zu den 400 Geretteten gehörten, die am Mittwoch abgefahren waren, oder zu einer anderen Gruppe. Wir versuchen, die Ereigniskette zu rekonstruieren. Aber es gibt kaum verlässliche offizielle Informationen. Die geretteten Menschen sind unsere Hauptinformationsquelle. Inzwischen haben alle, denen wir geholfen haben, den Hafen wieder verlassen. Wir wissen nicht, wo sie jetzt sind.

Eingesperrt in einem Kriegsland

In den kommenden Tagen werden wir nach den sieben Menschen schauen, die wir ins Krankenhaus überwiesen haben, und ihren Gesundheitszustand überprüfen. Sie können nicht in Internierungslager gesteckt werden. Sie müssen in sichere Unterkünften oder in ein sicheres Land gebracht werden.

Die meisten Leute, die ich betreut habe, haben einen grausamen Weg hinter sich. Sie werden nun erneut einem tödlichen Risiko ausgesetzt. Bevor sie den Schiffbruch überlebten, hatten sie die Wüste durchquert, waren von Menschenhändlern gefangen gehalten worden, Gewalt und Folter ausgesetzt. Dann sahen sie ihre Verwandten im Mittelmeer ertrinken, und jetzt werden sie wahrscheinlich unter schrecklichen Bedingungen in ein Gefängnis gesteckt. Oder sie werden in einem Kriegsland, in dem Flüchtlinge und Migranten bekanntermaßen schwer misshandelt werden, spurlos verschwinden.

Ich bin sehr verärgert. Es ist sehr schwer zu akzeptieren, dass Menschen, die solch einem Ausmaß an Gewalt und Trauma ausgesetzt waren, so behandelt werden. Das muss aufhören. Man kann sich nicht vorstellen, wie diese Menschen leiden. Wenn man mittendrin ist, wenn man versucht, es auszudrücken, dann merke ich, dass es keine Worte gibt, die ihr Leiden beschreiben.

Zur Autorin: Anne-Cecilia Kjaer
ist als Krankenschwester für Ärzte ohne Grenzen in der libyschen Hafenstadt Choms im Einsatz.